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Schopenhauers Kosmos

 

 Gelehrsamkeit. Gelehrte.

1) Untergeordneter Wert der Gelehrsamkeit.

Der Geist bedarf zwar allerdings der Nahrung des Stoffes von Außen. Aber wie nicht Alles, was wir essen, dem Organismus sofort einverleibt wird, sondern nur sofern es verdaut worden, wobei nur ein kleiner Teil davon wirklich assimiliert wird, das Übrige wieder abgeht, weshalb mehr essen, als man assimilieren kann, unnötig, ja schädlich ist; gerade so verhält es sich mit dem Vielwissen der Gelehrten: nur sofern das Gelesene und Gelernte Stoff zum Denken gibt, vermehrt es unsere Einsicht und eigentliches Wissen. Bloße Anfüllung des Gedächtnisses hingegen gibt keine Einsicht. Die Gelehrsamkeit ist mit einem schweren Harnisch zu vergleichen, als welcher allerdings den starken Mann völlig unüberwindlich macht, hingegen dem Schwachen eine Last ist, unter der er vollends zusammensinkt. (W. II, 86 fg.) Die Kunde ist ein bloßes Mittel zur Einsicht, hat aber an sich wenig, oder keinen Wert. Bei der imposanten Gelehrsamkeit der Vielwisser drängt sich uns die Betrachtung auf: o, wie wenig muss doch Einer zu denken gehabt haben, dass er so viel hat lesen und studieren können. (P. II, 513 fg.)
Wie gar unbedeutend ist es eigentlich, was gelehrt werden kann, und wie wenig demnach ist damit gesagt, dass man Einen einen Gelehrten nennt. Am meisten fühlt man dieses in Fällen, wo es eigentlich auf das Judicium ankommt, und wo daher Gescheut mehr am Orte wäre, als Gelehrt. Offenbar ist in jedem Menschen das Angeborene, der Geist, das Genie, von größerem Gewicht, als das Erworbene, zu welchem letzteren die Gelehrsamkeit gehört. (M. 421.)
Einsicht und wahre Weisheit hat ihre Quelle in der richtigen und tiefen anschaulichen Auffassung der Welt, nicht im abstrakten Wissen. Daher auch können Weise in jeder Zeit leben, und die der Vorzeit bleiben es für alle kommenden Geschlechter. Gelehrsamkeit hingegen ist relativ; die Gelehrten der Vorzeit sind meistens Kinder gegen uns und bedürfen der Nachsicht. (W. II, 87.)
Das wohlgewählte Symbol des reinen Gelehrten als solchen ist die Perücke. Sie ziert den Kopf mit einem reichlichen Maße fremden Haares, bei Ermangelung des eigenen; wie die Gelehrsamkeit in der Ausstattung des Kopfes mit einer großen Menge fremder Gedanken besteht, welche denn freilich ihn nicht so wohl und natürlich kleiden, noch so fest wurzeln, noch, wenn verbraucht, sogleich durch Andere aus der selben Quelle ersetzt werden, wie die dem selbsteigenen Grund und Boden entsprossenen. — Wirklich verhält auch die vollendetste Gelehrsamkeit sich zum Genie, wie ein Herbarium zur stets sich neu erzeugenden, ewig frischen, jungen und wechselnden Pflanzenwelt. (P. II, 515.)
Die Gelehrten sind Die, welche in den Büchern gelesen haben; die Denker, die Genies, die Welterleuchter und Förderer des Menschengeschlechts sind aber Die, welche unmittelbar im Buche der Welt gelesen haben. (P. II, 527.)
Auf der intuitiven Erkenntnis beruht das unendliche Überwiegen des Genies über die Gelehrsamkeit; sie verhalten sich zu einander, wie der Text des alten Klassikers zu seinem Kommentar. (W. II, 79. P. II, 82. 515.) Ein Gelehrter ist wer viel gelernt hat; ein Genie Der, von dem die Menschheit lernt, was er von Keinem gelernt hat. (P. II, 82.)

2) Gegensatz zwischen dem Fachgelehrten und Philosophen.

Ein exklusiver Fachgelehrter ist dem Fabrikarbeiter analog, der, sein Leben lang, nichts Anderes macht, als eine bestimmte Schraube, oder Haken, oder Handhabe zu einem bestimmten Werkzeuge oder Maschine, worin er dann freilich eine unglaubliche Virtuosität erlangt. Auch kann man den Fachgelehrten mit einem Manne vergleichen, der in seinem eigenen Hause wohnt, jedoch nie heraus kommt. In dem Hause kennt er Alles genau, jedes Treppchen, jeden Winkel und jeden Balken; aber außerhalb desselben ist ihm Alles fremd und unbekannt. — Wahre Bildung zur Humanität hingegen erfordert durchaus Vielseitigkeit und Überblick, also, für einen Gelehrten im höheren Sinne, allerdings etwas Polyhistoria. Wer aber vollends ein Philosoph sein will, muss in seinem Kopfe die entferntesten Enden des menschlichen Wissens zusammenbringen. — Geister ersten Ranges nun gar werden niemals Fachgelehrte sein. Ihnen ist das Ganze des Daseins zum Problem gegeben und über dasselbe wird Jeder von ihnen, in irgendeiner Form und Weise, der Menschheit neue Aufschlüsse erteilen. (P. II, 520.)

3) Gegensatz zwischen dem Gelehrten und dem Mann von natürlichem Verstand.

Aus dem Vorzug der intuitiven Erkenntnis vor der abstrakten (vergl. Anschauung und Begriff) erklärt sich, warum im wirklichen Leben der Gelehrte, dessen Vorzug im Reichtum abstrakter Erkenntnis liegt, so sehr zurücksteht gegen den Weltmann, dessen Vorzug in der vollkommenen intuitiven Erkenntnis besteht, die ihm ursprüngliche Anlage verliehen und reiche Erfahrung ausgebildet hat. (W. II, 82.)
Unter allen Ständen finden wir Menschen von Intellektueller Überlegenheit, und oft ohne alle Gelehrsamkeit. Denn natürlicher Verstand kann fast jeden Grad von Bildung ersetzen, aber keine Bildung den natürlichen Verstand. Der Gelehrte hat vor Solchen allerdings einen Reichtum von Fällen und Tatsachen (historische Kenntnis) und Kausalbestimmungen (Naturlehre) voraus; aber damit hat er doch noch nicht die richtigere und tiefere Einsicht in das eigentliche Wesen aller jener Fälle, Tatsachen und Kausalitäten. Der Ungelehrte von Scharfblick und Penetration weiß jenes Reichtums zu entraten. Ihn lehrt Ein Fall aus eigener Erfahrung mehr, als manchen Gelehrten tausend Fälle, die er kennt, aber nicht versteht; denn das wenige Wissen jenes Ungelehrten ist lebendig, hingegen ist das viele Wissen der gewöhnlichen Gelehrten tot. Daher, während manchem Ungelehrten die richtige Auffassung der anschaulichen Welt den Stempel der Einsicht und Weisheit auf die Stirne gedrückt hat, trägt das Gesicht manches Gelehrten von seinen vielen Studien keine anderen Spuren, als die der Erschöpfung und Abnutzung durch übermäßig erzwungene Anstrengung des Gedächtnisses zu widernatürlicher Anhäufung toter Begriffe. (W. II, 84.)

4) Fehler der meisten Gelehrten.

Den meisten Gelehrten ist ihre Wissenschaft Mittel, nicht Zweck. Darum werden sie nie etwas Großes darin leisten; weil hierzu erfordert ist, dass sie Dem, der sie treibt, Zweck sei und alles Andere, ja sein Dasein selbst, nur Mittel. Die Gelehrten, wie sie in der Regel sind, studieren zu dem Zweck, lesen und schreiben zu können. Daher gleicht ihr Kopf einem Magen und Gedärmen, daraus die Speisen unverdaut wieder abgehen. Eben deshalb wird auch ihr Lehren und Schreiben wenig nützen. Denn Andere nähren kann man nicht mit unverdauten Abgängen, sondern nur mit der Milch, die aus dem eigenen Blut sich abgesondert hat. (P. II, 514 fg.)
Die überraschende Unwissenheit vieler Gelehrten in Dingen ihres Faches hat zum letzten Grunde ihren Mangel an objektivem Interesse für die Gegenstände desselben, daher die solche betreffende Wahrnehmungen, Bemerkungen, Einsichten u. s. w. keinen lebhaften Eindruck auf sie machen, folglich nicht haften; wie sie denn überhaupt nicht con amore, sondern unter Selbstzwang studieren. (P. II, 56. Über den Vorzug des Dilettanten vor dem Gelehrten siehe: Dilettant.)
In der Gelehrten-Republik ist es, wie in anderen Republiken: man liebt einen schlichten Mann, der still vor sich hingeht und nicht klüger sein will, als die Andern. Gegen die exzentrischen Köpfe, als welche Gefahr drohen, vereinigt man sich. Jeder sucht, unbekümmert um das Ganze, nur sich geltend zu machen, um Ansehen zu gewinnen; das Einzige, worin sie alle übereinstimmen, ist, einen wirklich eminenten Kopf, wenn er sich zeigen sollte, nicht aufkommen zu lassen. (P. II, 518.) Zu allen Zeiten war man in der Gelehrten-Republik bemüht, das Mittelmäßige in jeder Gattung herauszustreichen und das eigentlich Wertvolle, ja Große, als unbequem zu verkleinern, ja zu beseitigen. (H. 467.)
Was die Bücher der meisten Gelehrten so langweilig macht, ist nicht die Trockenheit des Gegenstandes; sondern, wie das viele Lesen und Lernen dem eigenen Denken Abbruch tut, so entwöhnt das viele Schreiben und Lehren den Menschen von der Deutlichkeit und eo ipso Gründlichkeit des Wissens und Verstehens, weil es ihm nicht Zeit lässt, diese zu erlangen. Da muss er dann in seinem Vortrage die Lücken seines deutlichen Erkennens mit Worten und Phrasen ausfüllen. (P. II, 514.)
Das unaufhörliche Lesen und Studieren verdirbt geradezu den Kopf. Dies trägt viel bei zum Mangel an Originalität der Gelehrten. Dazu kommt aber noch, dass sie vermeinen, gleich anderen Leuten ihre Zeit zwischen Genuss und Arbeit teilen zu müssen. Nun halten sie das Lesen für ihre Arbeit und eigentlichen Beruf, überfressen sich also daran bis zur Unverdaulichkeit. Da spielt nun nicht mehr bloß das Lesen dem Denken das Prävenire, sondern nimmt dessen Stelle ganz ein; denn sie denken an die Sachen auch gerade nur so lange, wie sie darüber lesen, also mit einem fremden Kopf, nicht dem eigenen. Ist aber das Buch weggelegt, so nehmen ganz andere Dinge ihr Interesse viel lebhafter in Anspruch, nämlich persönliche Angelegenheiten, sodann Schauspiel, Kartenspiel, Kegelspiel, Tagesbegebenheiten und Geklatsch. (W. II, 85 fg. P. II, 527.)
(Über die speziellen Fehler der deutschen Gelehrten siehe: Deutsch.)