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Schopenhauers Kosmos

 

 Anschauung. Anschauende Erkenntnis. Das Anschauliche.

1) Intellektualität der Anschauung.

Alle Anschauung ist intellektual, d. h. sie ist eine Funktion des Verstandes (s. Verstand). Die erste, einfachste, stets vorhandene Äußerung des Verstandes ist die Anschauung der wirklichen Welt; diese ist durchaus Erkenntnis der Ursache aus der Wirkung. Die Veränderungen, welche der tierische Leib erfährt, werden unmittelbar erkannt, d. h. empfunden, und indem sogleich diese Wirkung auf ihre Ursache bezogen wird, entsteht die Anschauung der letzteren als eines Objekts. Diese Beziehung ist kein Schluss in abstrakten Begriffen, geschieht nicht durch Reflexion, nicht mit Willkür, sondern unmittelbar, notwendig und sicher. Sie ist die Erkenntnisweise des reinen Verstandes, ohne welchen es nie zur Anschauung käme, sondern nur ein dumpfes, pflanzenartiges Bewusstsein der Veränderungen des eigenen Leibes (des unmittelbaren Objekts) übrig bliebe. Wie mit dem Eintritt der Sonne die sichtbare Welt dasteht, so verwandelt der Verstand mit einem Schlage durch seine einzige, einfache Funktion der Beziehung der Wirkung auf ihre Ursache die dumpfe, nichtssagende Empfindung in Anschauung. Was das Auge, das Ohr, die Hand empfindet, ist nicht die Anschauung, es sind bloße Data. Erst indem der Verstand von der Wirkung auf die Ursache übergeht, steht die Welt da, als Anschauung im Raume ausgebreitet, der Gestalt nach wechselnd, der Materie nach beharrend; denn er vereinigt Raum und Zeit in der Vorstellung Materie, d. i. Wirksamkeit (s. Materie). Im ersten Kapitel der Abhandlung über das Sehen und die Farben und noch ausführlicher und gründlicher in dem §. 21 der Abhandlung über die vierfache Wurzel des Satzes vom zureichenden Grunde ist auseinandergesetzt, wie aus den Daten, welche die Sinne liefern, der Verstand die Anschauung schafft, wie durch Vergleichung der Eindrücke, welche vom nämlichen Objekt die verschiedenen Sinne erhalten, das Kind die Anschauung erlernt, wie eben nur dieses den Aufschluss über so viele Sinnenphänomene gibt, über das einfache Sehen mit zwei Augen, über das Doppeltsehen beim Schielen oder bei ungleicher Entfernung hinter einander stehender Gegenstände, die man zugleich ins Auge fasst, und über den Schein, welcher durch eine plötzliche Veränderung an den Sinneswerkzeugen hervorgebracht wird. — Das Sehenlernen der Kinder und operierter Blindgeborenen, das einfache Sehen des doppelt, mit zwei Augen Empfundenen, das Doppeltsehen und Doppelttasten bei der Verrückung der Sinneswerkzeuge aus ihrer gewöhnlichen Lage, die aufrechte Erscheinung der Gegenstände, während ihr Bild im Auge verkehrt steht, das Übertragen der Farbe, welche bloß eine innere Funktion, eine polarische Teilung der Tätigkeit des Auges ist, auf die äußeren Gegenstände und endlich auch das Stereoskop — dies Alles sind feste und unwiderlegliche Beweise davon, dass alle Anschauung nicht bloß sensual, sondern intellektual (oder objektiv ausgedrückt zerebral), d. h. nicht bloß Werk der Sinne, sondern des Verstandes ist, nämlich reine Verstandeserkenntnis der Ursache aus der Wirkung, folglich das Gesetz der Kausalität voraussetzt, von dessen Erkenntnis alle Anschauung, mithin alle Erfahrung ihrer ersten und ganzen Möglichkeit nach abhängt. (W. I, 13—15. W. II, 13. 23—30. G. 51—84. F. 7—20. P. I, 93. 96. 242.)

2) Verhältnis des Anteils der Sinne zu dem des Gehirns in der Anschauung.

Was zur Anschauung, in der die objektive Welt dasteht, die bloßen Sinne liefern, verhält sich zu Dem, was dazu die Gehirnfunktion liefert (Raum, Zeit, Kausalität), wie die Masse der Sinnesnerven zur Masse des Gehirns, nach Abzug desjenigen Teiles von dieser, der überdies zum eigentlichen Denken, d. h. dem abstrakten Vorstellen, verwendet wird. Denn, verleihen die Nerven der Sinnesorgane den erscheinenden Objekten Farbe, Klang, Geschmack, Geruch, Temperatur u. s. w., so verleiht das Gehirn denselben Ausdehnung, Form, Undurchdringlichkeit, Beweglichkeit u. s. w., kurz Alles, was erst mittelst Zeit, Raum und Kausalität vorstellbar ist. Wie gering bei der Anschauung der Anteil der Sinne ist gegen den des Intellekts (Verstandes) bezeugt also auch der Vergleich zwischen dem Nervenapparat zum Empfangen der Eindrücke mit dem zum Verarbeiten derselben, indem die Masse der Empfindungsnerven sämtlicher Sinnesorgane sehr gering ist gegen die des Gehirns, selbst noch bei den Tieren, deren Gehirn, da sie nicht eigentlich, d. h. abstrakt denken, bloß zur Hervorbringung der Anschauung dient und doch, wo diese vollkommen ist, also bei den Säugetieren, eine bedeutende Masse hat, auch nach Abzug des kleinen Gehirns, dessen Funktion die geregelte Leitung der Bewegungen ist. (W. II, 23 fg.)

3) Gegenstand der Anschauung.

Gegenstand der Anschauung sind unmittelbar die Dinge, nicht von diesen verschiedene Vorstellungen. Die einzelnen Dinge werden als solche angeschaut im Verstande und durch die Sinne. Sobald wir hingegen zum Denken übergehen, verlassen wir die einzelnen Dinge und haben es mit allgemeinen Begriffen ohne Anschaulichkeit zu tun, wenn wir gleich die Resultate unseres Denkens nachher auf die einzelnen Dinge anwenden. Kant macht die einzelnen Dinge zum Gegenstande teils der Anschauung, teils des Denkens. Wirklich sind sie aber nur Ersteres. Nur mittelbar, mittelst der Begriffe, bezieht sich das Denken auf Gegenstände, diese selbst aber sind allezeit anschaulich. In der Anschauung selbst schon ist die empirische Realität, mithin die Erfahrung gegeben. (W. I, 525.)
Die intuitive Vorstellung befasst die ganze sichtbare Welt oder die gesamte Erfahrung, nebst den Bedingungen der Möglichkeit derselben. (W. I, 7.)

4) Verhältnis der Anschauung zum Ding an sich oder zum Realen.

Der Übergang von der Sinnesempfindung zu ihrer Ursache, der aller Sinnesanschauung zum Grunde liegt, ist zwar hinreichend, uns die empirische Gegenwart in Raum und Zeit eines empirischen Objekts anzuzeigen, also völlig genügend für das praktische Leben; aber er reicht keineswegs hin uns Aufschluss zu geben über das Dasein und Wesen an sich der auf solche Weise für uns entstehenden Erscheinungen oder vielmehr ihres intelligiblen Substrats. Dass also auf Anlass gewisser, in meinen Sinnesorganen eintretender Empfindungen, in meinem Kopfe eine Anschauung von räumlich ausgedehnten, zeitlich beharrenden und ursächlich wirkenden Dingen entsteht, berechtigt mich durchaus nicht zu der Annahme, dass auch an sich selbst, d. h. unabhängig von meinem Kopfe und außer demselben, dergleichen Dinge mit solchen ihnen schlechthin angehörigen Eigenschaften existieren. (W. II, 13.)
Es zeugt von Unkenntnis des Sinnes der Frage nach dem Verhältnis zwischen dem Idealen und Realen, wenn dieses Verhältnis bezeichnet wird als das zwischen Denken und Sein. Das Denken hat zunächst bloß zum Anschauen ein Verhältnis, das Anschauen aber hat eines zum Sein an sich des Angeschauten, und dieses Letztere ist das eigentliche Problem. Das Denken entlehnt seinen Inhalt allein aus der anschaulichen Vorstellung, welche daher Urerkenntnis ist und also bei Untersuchung des Verhältnisses zwischen dem Idealen und Realen allein in Betracht kommt. (W. II, 215. P. I, 29 fg.)

5) Bedeutung der Anschauung für die Erkenntnis, die Wissenschaft, die Kunst, die Philosophie und die Tugend.

Die Anschauung ist nicht nur die Quelle aller Erkenntnis, sondern sie selbst ist die Erkenntnis κατ εξοχην, ist allein die wahre, die echte, die ihres Namens würdige Erkenntnis; denn sie allein erteilt eigentliche Einsicht. (W. II, 83.) Neue Grundeinsichten sind nur aus der anschaulichen, als der allein vollen und reichen Erkenntnis zu schöpfen, mit Hilfe der Urteilskraft. (W. II, 68. 77.) Die anschauende Erkenntnis ist für das System aller unserer Gedanken Das, was in der Geognosie der Granit ist, der letzte feste Boden, der Alles trägt und über den man nicht hinaus kann. (W. II, 69. 76.) Alle Wahrheit und alle Weisheit liegt zuletzt in der Anschauung. (W. II, 79,) Um irgend etwas wirklich und wahrhaft zu verstehen, ist erforderlich, dass man es anschaulich erfasse, ein deutliches Bild davon empfange, womöglich aus der Realität selbst, außerdem aber mittelst der Phantasie. Selbst was zu groß oder zu kompliziert ist, um mit Einem Blick übersehen zu werden, muss man, um es wahrhaft zu verstehen, entweder teilweise oder durch einen übersehbaren Repräsentanten sich anschaulich vergegenwärtigen; Das aber, welches selbst Dieses nicht zulässt, muss man wenigstens durch ein anschauliches Bild und Gleichnis sich fasslich zu machen suchen. So sehr ist die Anschauung die Basis unseres Erkennens. (P. II, 50. W. II, 76.) Nur was aus der Anschauung, und zwar der rein objektiven, entsprungen oder unmittelbar durch sie angeregt ist, enthält den lebendigen Keim, aus welchem echte und originelle Leistungen erwachsen können, nicht nur in den bildenden Künsten, sondern auch in der Poesie, ja, in der Philosophie. Das punctum saliens jedes schönen Werkes, jedes großen oder tiefen Gedankens, ist eine ganz objektive Anschauung. (W. II, 422.) Die Anschauung ist es, welcher das eigentliche und wahre Wesen der Dinge, wenn auch noch bedingterweise, sich aufschließt und offenbart. Alle Begriffe, alles Gedachte, sind ja nur Abstraktionen, mithin Teilvorstellungen aus jener und bloß durch Wegdenken entstanden. Alle tiefe Erkenntnis, sogar die eigentliche Weisheit wurzelt in der anschaulichen Auffassung der Dinge. Eine anschauliche Auffassung ist allemal der Zeugungsprozess gewesen, in welchem jedes echte Kunstwerk, jeder unsterbliche Gedanke, den Lebensfunken erhielt. Alles Urdenken geschieht in Bildern. (W. II, 77. 431.) Alle großen Köpfe haben stets in Gegenwart der Anschauung gedacht und den Blick unverwandt auf sie geheftet, bei ihrem Denken. (W. II, 78.)
Sogar die Tugend geht eigentlich von der anschauenden Erkenntnis aus; denn nur die Handlungen, welche unmittelbar durch diese hervorgerufen werden, mithin aus reinem Antriebe unserer eigenen Natur geschehen, sind eigentliche Symptome unseres wahren und unveränderlichen Charakters; nicht so die, welche aus der Reflexion und ihren Dogmen hervorgegangen, dem Charakter oft abgezwungen sind und daher keinen unveränderlichen Grund und Boden in uns haben. (W. II, 83.)

6) Mängel und Vorzüge der anschauenden Erkenntnis vor der abstrakten.

Die Anschauung lässt sich leider weder festhalten, noch mitteilen; allenfalls lassen sich die objektiven Bedingungen dazu durch die bildenden Künste und schon viel mittelbarer durch die Poesie, gereinigt und verdeutlicht den Anderen vorlegen; aber sie beruht ebenso sehr auf subjektiven Bedingungen, die nicht Jedem und Keinem jederzeit zu Gebote stehen, ja die in den höheren Graden der Vollkommenheit nur die Begünstigung Weniger sind. Unbedingt mitteilbar ist nur die schlechteste Erkenntnis, die abstrakte, die sekundäre, der Begriff, der bloße Schatten eigentlicher Erkenntnis. (W. II, 79. — Vergl. auch Abstrakt.)
Die anschauende Erkenntnis ist zwar die vollkommenste und genügendste, aber sie ist auf das ganz Einzelne, das Individuelle beschränkt. (W. II, 155.) Im Praktischen vermag die intuitive Erkenntnis des Verstandes unser Tun und Benehmen unmittelbar zu leiten und ist dadurch in allen Fällen, die keine Zeit zur Überlegung gestatten, im Vorteil vor der abstrakten Erkenntnis der Vernunft. Die intuitive Erkenntnis, welche stets nur das Einzelne auffasst, steht in unmittelbarer Beziehung zum gegenwärtigen Fall: Regel, Fall und Anwendung ist für sie Eins, und diesem folgt das Handeln auf dem Fuß. Jedoch gibt es auch Dinge und Lagen, für welche die abstrakte Erkenntnis brauchbarer ist als die intuitive. Wenn es nämlich ein Begriff ist, der bei einer Angelegenheit unser Tun leitet, so hat er den Vorzug, einmal gefasst, unveränderlich zu sein, daher wir unter seiner Leitung mit vollkommener Sicherheit und Festigkeit zu Werke gehen. Allein diese Sicherheit, die der Begriff auf der subjektiven Seite verleiht, wird aufgewogen durch die auf der objektiven Seite ihn begleitende Unsicherheit, nämlich der ganze Begriff kann falsch und grundlos sein, oder, auch das zu behandelnde Objekt nicht unter ihn gehören. Ist es hingegen unmittelbar die Anschauung der zu behandelnden Objekte und ihrer Verhältnisse, die unser Tun leitet, so schwanken wir leicht bei jedem Schritt; denn die Anschauung ist durchweg modifikabel, ist zweideutig, hat unerschöpfliche Einzelheiten in sich und zeigt viele Seiten nacheinander; wir handeln daher ohne volle Zuversicht. Allein diese subjektive Unsicherheit wird durch die objektive Sicherheit kompensiert, denn hier steht kein Begriff zwischen dem Objekt und uns, wir verlieren dieses nicht aus dem Auge; wenn wir daher nur richtig sehen, so werden wir das Rechte treffen. (W. II, 81 fg.)
So lange wir uns rein anschauend verhalten ist Alles klar, fest und gewiss. Da gibt es weder Fragen noch Zweifeln, noch Irren. Die Anschauung ist sich selber genug; daher was rein aus ihr entsprungen und ihr treu geblieben ist, wie das echte Kunstwerk, niemals falsch sein, noch durch irgend eine Zeit widerlegt werden kann; denn es gibt keine Meinung, sondern die Sache selbst. Aber mit der abstrakten Erkenntnis, mit der Vernunft, ist im Theoretischen der Zweifel und der Irrtum, im Praktischen die Sorge und die Reue eingetreten. Wenn in der anschaulichen Vorstellung der Schein auf Augenblicke die Wirklichkeit entstellt, so kann in der abstrakten der Irrtum Jahrtausende herrschen, auf ganze Völker sein eisernes Joch werfen. (W. I, 41 fg.) Die Natur, d. i. das Anschauliche, lügt nie noch widerspricht sie sich, da ihr Wesen dergleichen ausschließt. Wo daher Widerspruch und Lüge ist, da sind Gedanken, die nicht aus objektiver Auffassung entsprungen sind, z. B. im Optimismus. (P. II, 13 fg.) Keine, aus einer objektiven, anschauenden Auffassung der Dinge entsprungene und folgerecht durchgeführte Ansicht der Welt kann durchaus falsch sein, sondern sie ist, schlimmsten Falles, nur einseitig, so z. B. der vollkommene Materialismus, der absolute Idealismus u. a. m. — Unvollständig und einseitig kann eine objektive Auffassung sein; dann gebührt ihr eine Ergänzung, nicht eine Widerlegung (P. II, 13 fg.)
Die Begriffe, welche die Vernunft gebildet und das Gedächtnis aufbehalten hat, können nie alle zugleich dem Bewusstsein gegenwärtig sein, vielmehr nur eine sehr kleine Anzahl derselben zur Zeit. Hingegen die Energie, mit welcher die anschauliche Gegenwart aufgefasst wird, erfüllt mit ihrer ganzen Macht das Bewusstsein in Einem Moment. Hierauf beruht das unendliche Überwiegen des Genies über die Gelehrsamkeit; sie verhalten sich zu einander wie der Text des alten Klassikers zu seinem Kommentar. (W. II, 79.)
Das Anschauliche wirkt, weil es das Unmittelbare ist, auch unmittelbarer auf unseren Willen, als der Begriff, der abstrakte Gedanke, der bloß das Allgemeine gibt, ohne das Einzelne, welches doch gerade die Realität enthält. Infolge dieser Unmittelbarkeit dringt das Anschauliche weit stärker auf das Gemüt ein und stört leichter dessen Ruhe oder erschüttert seine Vorsätze. (Vergl. Affekt.) Das Gegenwärtige, Anschauliche wirkt, als leicht übersehbar, stets mit seiner ganzen Gewalt auf ein Mal, hingegen Gedanken und Gründe verlangen Zeit und Ruhe, um stückweise durchdacht zu werden; daher man sie nicht jeden Augenblick ganz gegenwärtig haben kann. Daraus entspringt die Schwierigkeit, Herr zu werden über den Eindruck des Anschaulichen mittelst bloßer Gedanken, und daher ist es ratsam, einen anschaulichen Eindruck durch den entgegengesetzten zu neutralisieren. (P. I, 468 fg.)