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Schopenhauers Kosmos

 

 Selbsterkenntnis.

1) Selbsterkenntnis im philosophischen Sinne.

Der letzte Zweck und das Ziel aller Spekulation ist nicht, wie die philosophischen Narren heut zu Tage glauben, Erkenntnis Gottes, sondern Erkenntnis des eigenen Selbst, wie schon am Tempel zu Delphi zu lesen, oder von Kant zu lernen war. (H. 295 fg.) Die Selbsterkenntnis ist der Schlüssel zur Erkenntnis des inneren Wesens der Dinge, d. h. der Dinge an sich selbst. (S. unter Ding an sich: Auf welchem Wege allein zur Erkenntnis des Dinges an sich zu gelangen ist, und: Mikrokosmos.)

2) Individuelle Selbsterkenntnis.

a) Schwierigkeit der individuellen Selbsterkenntnis.

Die Hauptschwierigkeit, welche der Selbsterkenntnis (dem γνωθι σαυτον) entgegensteht, ist der Egoismus, die Eigenliebe, die uns hindert, den Blick der Entfremdung auf uns zu werfen, welcher die Bedingung der objektiven Auffassung unserer selbst ist. (P. II, 629.)
Aus der primären Natur des Willens und der sekundären des Intellekts lässt es sich erklären, dass wir oft nicht wissen, was wir wünschen, oder was wir fürchten, und dass wir sogar oft über das eigentliche Motiv, aus dem wir etwas tun oder unterlassen, ganz im Irrtum sind, bis etwa ein Zufall uns das Geheimnis aufdeckt. Hieran haben wir eine Bestätigung und Erläuterung der Regel des La Rochefoucauld: l'amour propre est plus habile que le plus habile homme du monde, ja sogar einen Kommentar zum Sokratischen γνωθι σαυτον und dessen Schwierigkeit. (W. II, 235.)

b) Bedingtheit der individuellen Selbsterkenntnis durch die Erfahrung.

Man lernt seinen eigenen Charakter, wie den anderer Individuen nur durch Erfahrung kennen. (Vergl. unter Charakter: Wesentliche Prädikate des menschlichen Charakters.)
Welche Kräfte zum Leiden und Tun Jeder in sich trägt, weiß er nicht, bis ein Anlass sie in Tätigkeit setzt; — wie man dem im Teiche ruhenden Wasser mit glattem Spiegel nicht ansieht, mit welchem Toben und Brausen es vom Felsen unversehrt herabzustürzen, oder wie hoch es als Springbrunnen sich zu erheben fähig ist; — oder auch, wie man die im eiskalten Wasser latente Wärme nicht ahndet. (P. II, 630.)

c) Wichtigkeit der individuellen Selbsterkenntnis.

Erst die genaue Kenntnis seines eigenen empirischen Charakters gibt dem Menschen Das, was man erworbenen Charakter nennt und lobt. (S. unter Charakter: Der erworbene Charakter.)
Wie der Arbeiter, welcher ein Gebäude ausführen hilft, den Plan des Ganzen entweder nicht kennt, oder doch nicht immer gegenwärtig hat; so verhält der Mensch, indem er die einzelnen Tage und Stunden seines Lebens abspinnt, sich zum Ganzen seines Lebenslaufes und des Charakters desselben. Je würdiger, bedeutender, planvoller und individueller dieser ist, desto mehr ist es nötig und wohltätig, dass der verkleinerte Grundriss desselben, der Plan ihm bisweilen vor die Augen komme. Freilich gehört auch dazu, dass er einen kleinen Anfang in dem γνωθι σαυτον gemacht habe, also wisse, was er eigentlich, hauptsächlich und vor allem Anderen will, was also für sein Glück das Wesentlichste ist, sodann was die zweite und dritte Stelle nach diesem einnimmt, wie auch dass er erkenne, welches im Ganzen sein Beruf, seine Rolle und sein Verhältnis zur Welt sei. (P. I, 439 fg.) Ohne diese Kenntnis lebt man planlos, — ein Schiffer ohne Kompass. (H. 443.)