Schönheitssinn.
Der so bewunderungswürdige Schönheitssinn der Griechen, welcher
sie allein unter allen Völkern der Erde befähigte, den wahren Normaltypus
der menschlichen Gestalt herauszufinden und demnach die Musterbilder
der Schönheit und Grazie für alle Zeiten zur Nachahmung
aufzustellen, lässt eine tiefere Erklärung zu. Dasselbe nämlich, was,
wenn es vom Willen unzertrennt bleibt, Geschlechtstrieb mit fein
sichtender Auswahl, d. i. Geschlechtsliebe, gibt; eben Dieses wird,
wenn es durch das Vorhandensein eines abnorm überwiegenden Intellekts
sich vom Willen ablöst und doch tätig bleibt, zum objektiven
Schönheitssinn für menschliche Gestalt, welcher nun zunächst sich
zeigt als urteilender Kunstsinn, sich aber steigern kann bis zur Auffindung
und Darstellung der Norm aller Teile und Proportionen,
wie dies der Fall war im Phidias, Praxiteles, Skopas u. s. w.
(W. II. 478.)