Naturkraft.
1) Unerklärlichkeit der Naturkräfte.
Jede echte, also wirklich ursprüngliche Naturkraft, wozu auch jede chemische Grundeigenschaft gehört, ist wesentlich qualitas occulta d. h. keiner physischen Erklärung weiter fähig, sondern nur noch einer metaphysischen, d. h. über die Erscheinung hinausgehenden. (G. 46. W. I, 116 fg. 166; II, 191 fg.)
In jedem Dinge in der Natur ist etwas, davon kein Grund je
angegeben werden kann, keine Erklärung möglich, keine Ursache weiter
zu suchen ist; es ist die spezifische Art seines Wirkens, d. h. eben die
Art seines Daseins, sein Wesen. Was dem Menschen sein unergründlicher,
bei aller Erklärung seiner Taten aus Motiven vorausgesetzter
Charakter ist; eben das ist jedem unorganischen Körper seine wesentliche
Qualität, die Art seines Wirkens, die in ihm sich hervortun de
Naturkraft, deren Äußerungen hervorgerufen werden durch Einwirkung
von Außen, während hingegen sie selbst durch nichts außer
ihr bestimmt, also auch nicht erklärlich ist; ihre einzelnen Erscheinungen,
durch welche allein sie sichtbar wird, sind dem Satz vom Grunde
unterworfen, sie selbst ist grundlos. (W. I, 148. 155.)
Die Naturkraft ist Erscheinung des Willens und als solche nicht
den Gestaltungen des Satzes vom Grunde unterworfen, d. h. grundlos.
Sie liegt außer aller Zeit, ist allgegenwärtig. Alle Zeit ist
nur für ihre Erscheinung, ihr selbst ohne Bedeutung. Jahrtausende
schlummern die chemischen Kräfte in einer Materie, bis die Berührung
der Reagenzien sie frei macht; dann erscheinen sie; aber die Zeit ist
nur für diese Erscheinung, nicht für die Kräfte selbst da.
Die ursprünglichen Naturkräfte liegen als unmittelbare Objektivationen
des Willens, der als Ding an sich dem Satz vom Grunde nicht
unterworfen ist, außerhalb der Formen ihrer Erscheinungen (Raum,
Zeit und Kausalität). Zwischen der Naturkraft und allen ihren Erscheinungen
ist der Unterschied, dass jene der Wille selbst auf dieser
bestimmten Stufe seiner Objektivation ist, den Erscheinungen allein aber
durch Zeit und Raum Vielheit zukommt, und das Gesetz der Kausalität
nichts Anderes, als die Bestimmung der Stelle in jenen für die einzelnen
Erscheinungen ist. (W. I, 161—163.) Wir erkennen selbst
den untersten Naturkräften eine Äternität und Ubiquität zu, an welcher
uns die Vergänglichkeit ihrer flüchtigen Erscheinungen keinen Augenblick
irre macht. (W. II, 536.)
2) Gegensatz zwischen Naturkraft und Ursache.
Von der endlosen Kette der Ursachen und Wirkungen, welche alle Veränderungen leitet, aber nimmer über diese hinaus sich erstreckt, bleiben einerseits die Materie und andererseits die ursprünglichen Naturkräfte unberührt, jene als der Träger aller Veränderungen, oder Das, woran sie vorgehen, diese als Das, vermöge dessen die Veränderungen, oder Wirkungen überhaupt möglich sind, Das, was den Ursachen die Kausalität, d. i. die Fähigkeit zu wirken, allererst erteilt. Ursache und Wirkung sind die zu notwendiger Sukzession in der Zeit verknüpften Veränderungen; die Naturkräfte hingegen, vermöge welcher alle Ursachen wirken, sind von allem Wechsel ausgenommen, daher in diesem Sinne außer aller Zeit, eben deshalb aber stets und überall vorhanden, allgegenwärtig und unerschöpflich, immer bereit sich zu äußern, sobald nur, am Leitfaden der Kausalität, die Gelegenheit dazu eintritt. Die Ursache ist allemal, wie auch ihre Wirkung, ein Einzelnes, eine einzelne Veränderung; die Naturkraft hingegen ist ein Allgemeines, Unveränderliches, zu aller Zeit und überall Vorhandenes. Die Verwechslung der Naturkraft mit der Ursache ist so häufig, wie für die Klarheit des Denkens verderblich. Nicht nur werden die Naturkräfte selbst zu Ursachen gemacht, indem man sagt: die Elektrizität, die Schwere u. s. f. ist Ursache; sondern sogar zu Wirkungen machen sie Manche, indem sie nach einer Ursache der Elektrizität, der Schwere u. s. w. fragen, welches absurd ist. Etwas ganz Anderes ist es jedoch, wenn man die Zahl der Naturkräfte dadurch vermindert, dass man eine derselben auf eine andere zurückführt. (G. 45. fg. 93. W. II, 51 fg.; I, 161—163. P. II, 98. E. 46 fg.)3) Idealistische Erklärung der unfehlbaren Gesetzmäßigkeit und Pünktlichkeit des Wirkens der Naturkräfte.
Die Unfehlbarkeit der Naturgesetze hat, wenn man von der Erkenntnis des Einzelnen, nicht von der Idee ausgeht, etwas Überraschendes. Man könnte sich wundern, dass die Natur ihre Gesetze auch nicht ein einziges Mal vergisst. Am lebhaftesten empfinden wir dieses Wunderbare bei seltenen, nur unter sehr kombinierten Umständen erfolgenden, unter diesen aber uns vorher verkündeten Erscheinungen. Es ist die geistermäßige Allgegenwart der Naturkräfte, die uns alsdann überrascht. Hingegen, wenn wir in die philosophische Erkenntnis eingedrungen sind, dass eine Naturkraft eine bestimmte Stufe der Objektivation des Willens ist, und dass dieser Wille an sich selbst und unterschieden von seiner Erscheinung und deren Formen, außer der Zeit und dem Raume liegt, und die daher durch diese bedingte Vielheit nicht ihm, noch unmittelbar der Idee, sondern erst den Erscheinungen dieser zukommt, das Gesetz der Kausalität aber nur in Beziehung auf Zeit und Raum Bedeutung hat; — wenn uns in dieser Erkenntnis der innere Sinn der Kantischen Lehre von der Idealität des Raums, der Zeit und der Kausalität aufgegangen ist; dann werden wir einsehen, dass jenes Erstaunen über die Gesetzmäßigkeit und Pünktlichkeit des Wirkens einer Naturkraft, über die vollkommene Gleichheit aller ihrer Millionen Erscheinungen, über die Unfehlbarkeit des Eintritts derselben, in der Tat dem Erstaunen eines Kindes, oder eines Wilden zu vergleichen ist, der zum ersten Mal durch ein Glas mit vielen Facetten etwa eine Blume betrachtend, sich wundert über die vollkommene Gleichheit der unzähligen Blumen, die er sieht, und einzeln die Blätter einer jeden derselben zählt. (W. I, 158 fg.)4) Die Stufen der Naturkräfte als Stufen der Objektivation des Willens.
Jede ursprüngliche Naturkraft ist eine bestimmte Stufe der Objektivation des Willens oder der Idee im Platonischen Sinne. Als die niedrigste Stufe der Objektivation des Willens stellen sich die allgemeinsten Kräfte der Natur dar, welche teils in jeder Materie ohne Ausnahme erscheinen, wie Schwere, Undurchdringlichkeit, teils sich unter einander in die überhaupt vorhandene Materie geteilt haben, so dass einige über diese, andere über jene, eben dadurch spezifisch verschiedene Materie herrschen, wie Starrheit, Flüssigkeit, Elastizität, Magnetismus, chemische Eigenschaften und Qualitäten jeder Art. (W. I, 154. 159.) Auf den oberen Stufen der Objektität des Willens sehen wir die Individualität bedeutend hervortreten. (W. I, 155. — Vergl. unter Individuation, Individualität: Die Individualität auf den verschiedenen Stufen der Natur.)
Wir können die verschiedenen in den Naturkräften sich offenbarenden
Ideen oder Objektivationsstufen des Willens als einzelne und an sich
einfache Willensakte betrachten, indem sein Wesen sich mehr oder
weniger ausdrückt. Nun behält auf den niedrigsten Stufen der Objektität
ein solcher Akt (oder eine Idee) auch in der Erscheinung seine
Einheit bei; während er auf den höheren Stufen, um zu erscheinen,
einer ganzen Reihe von Zuständen und Entwicklungen in deren Zeit
bedarf, welche alle zusammengenommen erst den Ausdruck seines Wesens
vollenden. So z. B. hat die Idee, welche sich in irgend einer
allgemeinen Naturkraft offenbart, immer eine einfache Äußerung,
wenngleich diese nach Maßgabe der äußeren Verhältnisse sich verschieden
darstellt. Ebenso hat der Kristall nur eine Lebensäußerung. — Schon
die Pflanze aber drückt die Idee, deren Erscheinung sie ist, in einer
Sukzession von Entwicklungen ihrer Organe aus. Beim Tier stellt
sich die Idee nicht bloß in der Entwicklung des Organismus, sondern
auch durch die Handlungen dar, in denen sein empirischer Charakter
sich ausspricht, der in der ganzen Spezies derselbe ist. Beim Menschen
ist schon in jedem Individuum der empirische Charakter ein eigentümlicher.
(W. II, 184 fg.)
5) Identität der untersten Naturkräfte mit dem Willen in uns.
Die Naturkräfte sind am gründlichsten in der SchriftÜber den Willen in der Naturals identisch mit dem Willen in uns nachgewiesen. (W. II, 52.)
In den dumpfen und blinden Urkräften der Natur, aus deren
Wechselspiel das Planetensystem hervorgeht, ist schon eben der Wille
zum Leben, welcher nachher in den vollendetsten Erscheinungen der
Welt auftritt, das innerlich Wirkende und Leitende und bereitet schon
dort, mittelst strenger Naturgesetze auf seinen Zweck hinarbeitend, die
Grundfeste zum Bau der Welt und ihrer Ordnung vor. (P. II,
229 fg.)
Schon die untersten Naturkräfte sind von jenem selben Willen beseelt,
der sich nachher in dem mit Intelligenz ausgestatteten, individuellen
Wesen über sein eigenes Werk (die zweckmäßige Einrichtung der Welt)
verwundert, wie der Nachtwandler am Morgen über Das, was er im
Schlafe vollbracht; oder richtiger, der über seine eigene Gestalt, die er
im Spiegel erblickt, erstaunt. (W. II, 369 fg.)
6) Verhältnis der Naturkräfte zur Materie.
Die eine identische Materie ist das gemeinsame Substrat der Erscheinungen verschiedener Ideen oder Naturkräfte. Das Gesetz der Kausalität bestimmt die Grenzen, welchen gemäß die Erscheinungen der Naturkräfte sich in den Besitz der Materie teilen. Ins Unendliche ließe sich die nämliche beharrende Materie verfolgen und zusehen, wie bald diese, bald jene Naturkraft ein Recht auf sie gewinnt und es unausbleiblich ergreift, um hervorzutreten und ihr Wesen zu offenbaren. (W. I, 160—162.) Der Unterschied zwischen der Materie und der temporär sie in Besitz nehmenden stets metaphysischen Kraft lässt sich z. B. augenfällig nachweisen am Vogelei, dessen so homogene, gestaltlose Flüssigkeit, sobald nur die gehörige Temperatur hinzutritt, die so komplizierte und genau bestimmte Gestalt der Gattung und Art seines Vogels annimmt. Gewissermaßen ist Dies doch eine Art generatio aequivoca, und höchst wahrscheinlich ist dadurch, dass sie einst in der Urzeit und zur glücklichen Stunde vom Typus des Tieres, welchem das Ei angehörte, zu einem höheren übersprang, die aufsteigende Reihe der Tierformen entstanden. Jedenfalls tritt hier am augenscheinlichsten ein von der Materie Verschiedenes hervor, zumal da es beim geringsten ungünstigen Umstand ausbleibt. Dadurch wird fühlbar, dass es nach vollbrachtem, oder später behinderten Wirken, auch eben so unversehrt von ihr weichen kann; welches dann auf eine ganz andersartige Permanenz hindeutet, als das Beharren der Materie in der Zeit ist. (P. II, 285 fg.)7) Fehler, welche bei der Aufstellung von Naturkräften zu vermeiden sind.
Trägheit und Unwissenheit machen geneigt, sich zu früh auf ursprüngliche Kräfte zu berufen; dies zeigt sich mit einer der Ironie gleichen Übertreibung in den Entitäten und Quidditäten der Scholastiker. Die Physik hat zu unterscheiden, ob eine Verschiedenheit der Erscheinung von einer Verschiedenheit der Kraft, oder nur von Verschiedenheit der Umstände, unter denen die Kraft sich äußert, herrührt, und gleich sehr sich zu hüten, für Erscheinung verschiedener Kräfte zu halten, was Äußerung einer und derselben Kraft, bloß unter verschiedenen Umständen, ist, als umgekehrt, für Äußerungen Einer Kraft zu halten, was ursprünglich verschiedenen Kräften angehört. (W. I, 166.)
Es ist eine Verirrung der Naturwissenschaft, wenn sie die höheren
Stufen der Objektität des Willens zurückführen will auf niedere; da
das Verkennen und Leugnen ursprünglicher und für sich bestehender
Naturkräfte eben so fehlerhaft ist, wie die grundlose Annahme eigentümlicher
Kräfte, wo bloß eine besondere Erscheinungsart schon bekannter
Statt findet. Mit Recht sagt daher Kant, es sei ungereimt,
auf einen Newton des Grashalms zu hoffen. Andererseits aber ist
nicht zu übersehen, dass in allen Ideen, d. h. in allen Kräften der
unorganischen und allen Gestalten der organischen Natur, einer und
derselbe Wille es ist, der sich offenbart. Seine Einheit muss sich
daher auch durch eine innere Verwandtschaft zwischen allen seinen Erscheinungen
zu erkennen geben. (W. I, 169 fg. 632 fg. Vergl. auch
unter Lebenskraft: Gegen das Leugnen der Lebenskraft.)