Lesen.
1) Nachteile des vielen Lesens.
Da das fortwährende Einströmen fremder Gedanken die eigenen hemmt und erstickt, ja, auf die Länge die Denkkraft lähmt, so verdirbt das unaufhörliche Lesen und Studieren geradezu den Kopf. (W. II, 85. P. II, 527. 529.) Es ist sogar gefährlich, früher über einen Gegenstand zu lesen, als man selbst darüber nachgedacht hat. Denn da schleicht sich mit dem neuen Stoff zugleich die fremde Ansicht und Behandlung desselben in den Kopf. (W. II, 85.) Während des Lesens ist unser Kopf doch eigentlich nur der Tummelplatz fremder Gedanken. Daher kommt es, dass wer sehr viel liest, dazwischen aber sich in gedankenlosem Zeitvertreib erholt, die Fähigkeit, selbst zu denken, allmählich verliert, — wie Einer, der immer reitet, zuletzt das Gehen verlernt. (P. II, 587 fg. 514.) Das viele Lesen nimmt dem Geiste alle Elastizität, wie ein fortdauernd drückendes Gewicht sie einer Springfeder nimmt. (P. II, 527.) Wie nicht Alles, was wir essen, dem Organismus sofort einverleibt wird, sondern nur sofern es verdaut worden, wobei nur ein kleiner Teil davon wirklich assimiliert wird, das Übrige wieder abgeht, weshalb mehr essen, als man assimilieren kann, unnütz, ja schädlich ist; geradeso verhält es sich mit dem, was wir lesen: nur sofern es Stoff zum Denken gibt, vermehrt es unsere Einsicht und eigentliches Wissen. (W. II, 86.)2) Verschiedenheit zwischen der Wirkung des Lesens und der des Selbstdenkens auf den Geist.
Die Verschiedenheit zwischen der Wirkung, welche das Selbstdenken, und der, welche das Lesen auf den Geist hat, ist unglaublich groß; daher sie die ursprüngliche Verschiedenheit der Köpfe, vermöge welcher man zum Einen, oder zum Anderen getrieben wird, noch immerfort vergrößert. Beim Lesen erleidet der Geist totalen Zwang von außen, jetzt Dies oder Jenes zu denken, wozu er so eben gar keinen Trieb, noch Stimmung hat. Hingegen beim Selbstdenken folgt er seinem selbsteigenen Triebe, wie diesen für den Augenblick entweder die äußere Umgebung, oder irgend eine Erinnerung näher bestimmt hat. Die anschauliche Umgebung nämlich dringt dem Geiste nicht einen bestimmten Gedanken auf, wie das Lesen; sondern gibt ihm bloß Stoff und Anlass zu denken, was seiner Natur und gegenwärtigen Stimmung gemäß ist. (P. II, 527.)3) Was und wann man lesen soll.
In Hinsicht auf unsere Lektüre ist die Kunst, nicht zu lesen, höchst wichtig. Sie besteht darin, dass man die beim großen Publikum beliebte und eben Lärm machende Tagesliteratur, wie etwa politische oder kirchliche Pamphlete, Romane, Poesien u. dgl. m. nicht deshalb auch in die Hand nehme. Man wende vielmehr die stets knapp gemessene, dem Lesen bestimmte Zeit ausschließlich den Werken der großen, die übrige Menschheit überragenden Geister aller Zeiten und Völker zu; nur diese bilden und belehren wirklich. (P. II, 590.)
Lesen soll man nur dann, wann die Quelle der eigenen Gedanken
stockt; was auch beim besten Kopfe oft genug der Fall sein wird.
Hingegen die eigenen, und kräftigen Gedanken verscheuchen, um ein
Buch zur Hand zu nehmen, ist Sünde wider den heiligen Geist.
Man gleicht alsdann Dem, der aus der freien Natur flieht, um ein
Herbarium zu besehen, oder um schöne Gegenden im Kupferstich zu
betrachten. (P. II, 528.)
Da man sich zwar willkürlich auf das Lesen applizieren kann, auf
das Denken aber eigentlich nicht, zu diesem vielmehr die gute Stunde
abgewartet sein will und sogar der größte Kopf nicht jederzeit zum
Selbstdenken fähig ist, so tut man wohl, die Zeit, wo man zum Selbstdenken
nicht aufgelegt ist, zum Lesen zu benutzen, als welches dem
Geiste Stoff zuführt. (P. II, 526. 531.)