Lebensalter.
1) Beharrliches und Veränderliches in den verschiedenen Lebensaltern.
Bei der Vergleichung unserer Denkungsart in verschiedenen Lebensaltern bietet sich uns ein sonderbares Gemisch von Beharrlichkeit und Veränderlichkeit dar. Einerseits ist die moralische Tendenz des Mannes und Greises noch die selbe, welche die des Knaben war; andererseits ist ihm Vieles so entfremdet, dass er sich nicht mehr kennt und sich wundert, wie er einst Dieses und Jenes tun oder sagen gekonnt. Bei näherer Untersuchung wird man finden, dass das Veränderliche der Intellekt war, mit seinen Funktionen der Einsicht und Erkenntnis. Als das Unabänderliche im Bewusstsein hingegen weist sich gerade die Basis desselben aus, der Wille, also die Neigungen, Leidenschaften, Affekte, der Charakter; wobei jedoch die Modifikationen in Rechnung zu bringen sind, welche von den körperlichen Fähigkeiten zum Genuss und hierdurch vom Alter abhängen. So z. B. wird die Gier nach sinnlichem Genuss im Knabenalter als Naschhaftigkeit auftreten, im Jünglings- und Mannesalter als Hang zur Wollust, und im Greisenalter wieder als Naschhaftigkeit. (W. II, 252. 263—267.)
Unser ganzes Leben hindurch haben wir immer nur die Gegenwart
inne, und nie mehr. Was dieselbe unterscheidet ist bloß, dass
wir am Anfang eine lange Zukunft vor uns, gegen das Ende aber
eine lange Vergangenheit hinter uns sehen; sodann, dass unser Temperament,
wiewohl nicht unser Charakter, einige bekannte Veränderungen
durchgeht, wodurch jedes Mal eine andere Färbung der Gegenwart
entsteht. (P. I, 508.)
2) Charakter der Kindheit.
In der Kindheit verhalten wir uns viel mehr erkennend, als wollend. Gerade hierauf beruht jene Glückseligkeit des ersten Viertels unser Lebens, in Folge welcher es nachher wie ein verlorenes Paradies hinter uns liegt. Wir haben in der Kindheit nur wenige Beziehungen und geringe Bedürfnisse, also wenig Anregung des Willens; der größere Teil unseres Wesens geht demnach im Erkennen auf, und zwar in dem Erkennen, das im Stillen an den individuellen Dingen und Vorgängen die Grundtypen, die Ideen, das Wesen des Lebens selbst aufzufassen beschäftigt ist. Hieraus entspringt die Poesie und Seligkeit der Kinderjahre. (P. I, 508—511. W. II, 449 fg. P. II, 456.)
Zum Glück der Kindheit trägt auch noch dieses bei, dass wir in
früher Kindheit alle einander ähnlich sind, daher vortrefflich harmonieren.
Aber mit der Pubertät fängt die Divergenz an und wird, wie die der
Radien eines Zirkels immer größer. (P. I, 511.)
Die Lernbegierde der Kinder ist stark, wenn sie das wahrhaft
Brauchbare und Notwendige vor sich sieht, und erscheint nur dann
schwach, wenn wir dem Kind das ihm Unangemessene aufdrängen
wollen. (G. 100.) Knaben zeigen meistens Wissbegier; kleine Mädchen
bloße Neugier, diese aber in stupendem Grade und oft mit widerwärtiger
Naivität. Die dem weiblichen Geschlechte eigentümliche
Richtung auf das Einzelne, bei Unempfänglichkeit für das Allgemeine,
kündigt sich hierin schon an. (P. II, 66.)
3) Charakter des Jugendalters.
Was den Rest der ersten Hälfte, die so viele Vorzüge vor der zweiten hat, also das jugendliche Alter trübt, ja unglücklich macht ist das Jagen nach Glück, in der festen Voraussetzung, es müsse im Leben anzutreffen sein. Daraus entspringt die fortwährend getäuschte Hoffnung und aus dieser die Unzufriedenheit. Wir sind in unsern Jünglingsjahren mit unserer Lage und Umgebung meistens unzufrieden, weil wir ihr zuschreiben, was der Leerheit und Armseligkeit des menschlichen Lebens überall zukommt, und mit der wir jetzt die erste Bekanntschaft machen, nachdem wir ganz andere Dinge erwartet hatten. (P. I, 511. 433.) Der Jüngling erwartet seinen Lebenslauf in Form eines interessanten Romans. Dergleichen melancholische Jünglingsschwärmerei verlangt eigentlich etwas sich geradezu Widersprechendes. Denn die Schönheit, mit der die ersehnten, poetischen Gegenstände und Situationen sich darstellen, beruht gerade auf der reinen Objektivität, d. i. Interesselosigkeit ihrer Anschauung und würde daher durch die Beziehung auf den eigenen Willen, welche der Jüngling schmerzlich vermisst, sofort aufgehoben, mithin der ganze Zauber gar nicht vorhanden sein. Verwirklicht werden heißt mit dem Wollen ausgefüllt werden, welches Wollen unausweichbare Schmerzen herbeiführt. (W. II, 426. 486. P. I, 512.) In der Jugend ist, besonders auf lebhafte und phantasiereiche Köpfe, der Eindruck des Anschaulichen, mithin auch der Außenseite der Dinge, so überwiegend, dass sie die Welt ansehen als ein Bild; daher ihnen hauptsächlich angelegen ist, wie sie darauf figurieren und sich ausnehmen, — mehr als wie ihnen innerlich dabei zu Mute sei. Dies zeigt sich schon in der persönlichen Eitelkeit und Putzsucht der Jünglinge. (P. I, 521.)4) Gegensatz zwischen Jugend und Alter.
Die Jugend ist die Zeit der Illusionen; das Alter die der Enttäuschungen. In der Kindheit stellt das Leben sich uns dar, wie eine Theaterdekoration, von Weitem gesehen; im Alter, wie dieselbe in der größten Nähe. (P. I, 511.) Ist der Charakter der ersten Lebenshälfte unbefriedigte Sehnsucht nach Glück, so ist der der zweiten Besorgnis vor Unglück. (P. I, 512.) Die zweite Hälfte des Lebens enthält, wie die zweite Hälfte einer musikalischen Periode, weniger Strebsamkeit, aber mehr Beruhigung, als die erste, welches darauf beruht, dass man in der Jugend denkt, in der Welt sei Wunder was für Glück und Genuss anzutreffen, nur schwer dazu zu gelangen; während man im Alter weiß, dass da nichts zu holen ist, also vollkommen darüber beruhigt, eine erträgliche Gegenwart genießt. (P. I, 512 fg. 523—526.) In der Jugend herrscht die Anschauung, im Alter das Denken vor; daher ist jene die Zeit für Poesie, dieses mehr für Philosophie. (P. I, 521.) Die Dichtergabe blüht eigentlich nur in der Jugend; auch die Empfänglichkeit für Poesie ist in der Jugend oft leidenschaftlich, der Jüngling hat Freude an Versen als solchen und nimmt oft mit geringer Ware vorlieb. Mit den Jahren nimmt diese Neigung allmählich ab und im Alter zieht man die Prosa vor. Durch jene poetische Tendenz der Jugend wird dann leicht der Sinn für die Wirklichkeit verdorben. (W. II, 486.) Das Alter hat vor der Jugend die Unbefangenheit voraus. Der gereifte Mann sieht die Dinge ganz einfach und nimmt die Dinge für Das, was sie sind; während dem Knaben und Jüngling ein Trugbild, zusammengesetzt aus selbstgeschaffenen Grillen, überkommenen Vorurteilen und seltsamen Phantasien, die wahre Welt bedeckt oder verzerrt. (P. I, 513.) Die Heiterkeit und der Lebensmut der Jugend beruht zum Teil darauf, dass wir, bergaufgehend, den Tod nicht sehen. Nach Überschreitung des Gipfels aber werden wir den Tod ansichtig, wodurch, da zu gleicher Zeit die Lebenskraft zu ebben beginnt, auch der Lebensmut sinkt und ein trüber Ernst den jugendlichen Übermut verdrängt. (P. I, 514 fg.) Vom Standpunkte der Jugend aus gesehen ist das Leben eine unendlich lange Zukunft; vom Standpunkt des Alters aus, eine sehr kurze Vergangenheit. (P. I, 515—517. 528.)
Durch das Wegfallen der Langeweile in späteren Jahren und das
Verstummen der Leidenschaften mit ihrer Qual wird, wenn nur die Gesundheit
sich erhält, im Ganzen genommen die Last des Lebens geringer,
als sie in der Jugend ist; daher nennt man den dem Eintritt der
Altersschwäche vorhergehenden Zeitraum
die besten Jahre. In Hinsicht auf unser Wohlbehagen mögen sie es wirklich sein; hingegen bleibt den Jugendjahren der Vorzug, die befruchtende Zeit für den Geist, der Blüten ansetzende Frühling desselben zu sein. Die größte Energie und Spannung der Geisteskräfte findet in der Jugend statt, spätestens bis ins 35te Jahr; von dem an nimmt sie ab. Jedoch sind die späteren Jahre nicht ohne Kompensation dafür, indem die reichere Erfahrung und die Vielseitigkeit der Betrachtung die Dinge allererst jetzt im Zusammenhang verstehen lehrt. In der Jugend ist mehr Konzeption, im Alter mehr Urteil, Penetration und Gründlichkeit (P. I, 520—523. 527.)
Im Verlaufe des Lebens treten Kopf und Herz immer mehr auseinander;
immer mehr sondert man seine subjektive Empfindung von
seiner objektiven Erkenntnis. Im Kind sind beide noch ganz verschmolzen;
es weiß sich von seiner Umgebung kaum zu unterscheiden,
es verschwimmt mit ihr. Im Jüngling wirkt alle Wahrnehmung
zunächst Empfindung und Stimmung, ja vermischt sich mit dieser.
Eben daher haftet der Jüngling so sehr an der anschaulichen Außenseite
der Dinge; eben daher taugt er nur zur lyrischen Poesie und erst der
Mann zur dramatischen. Den Greis kann man sich höchstens noch
als Epiker denken, wie Ossian, Homer; denn Erzählen gehört zum
Charakter des Greises. (W. I, 296.)