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Schopenhauers Kosmos

 

 Gerechtigkeit.

I. Die Gerechtigkeit als Tugend.

1) Wesen und Ursprung der Gerechtigkeit.

Die Gerechtigkeit ist die erste und wichtigste Kardinaltugend. (E. 199. 226. W. II, 694.) Sie verhält sich zur zweiten Kardinaltugend, der Menschenliebe, wie das Negative zum Positiven, wie das Nichtverletzen zum Helfen. Das Mitleid, diese echte und natürliche moralische Triebfeder, hat nämlich zwei deutlich getrennte Grade seiner Wirksamkeit. Im ersten Grade wirkt es den egoistischen oder boshaften Motiven bloß negativ entgegen, indem es abhält, dem Anderen ein Leiden zu verursachen, ihn zu verletzen; im zweiten und höheren Grade dagegen treibt es, positiv wirkend, zu tätiger Hilfe an. Die Gerechtigkeit ist demnach, als bloße Negation des Bösen, eine negative Tugend. Derjenige, welcher freiwillig, aus bloßem Mitleid, also auch da, wo kein Staat oder sonstige Gewalt das Unrecht bedroht, sich des Unrechts enthält, ist gerecht. Ein solcher verhängt nicht, um ein eigenes Wohlsein zu vermehren, Leiden über Andere, d. h. er begeht kein Verbrechen; respektiert vielmehr die Rechte eines Jeden. Das Gemüt des Gerechten ist bis zu dem Grade für das Mitleid empfänglich, dass dieses ihn zurückhält, wo und wann er, um seine Zwecke zu erreichen, fremdes Leiden als Mittel gebrauchen möchte; gleichviel, ob dieses Leiden ein augenblicklich, oder später eintretendes, ein direktes, oder indirektes, durch Zwischenglieder vermitteltes sei. Der Gerechte wird folglich so wenig das Eigentum, als die Person des Anderen angreifen, ihm so wenig geistige, als körperliche Leiden verursachen, also nicht nur jeder physischen Verletzung sich enthalten, sondern auch eben so wenig auf geistigem Wege dem Andern Schmerz bereiten durch Kränkung, Ängstigung, Ärger oder Verleumdung. (W. I, 437. E. 212 ff.)
Obwohl aber die Gerechtigkeit als echte, freie Tugend ihren Ursprung im Mitleid hat; so ist doch keineswegs erforderlich, dass in jedem einzelnen Fall das Mitleid wirklich erregt werde; sondern aus der ein für alle Mal erlangten Kenntnis von dem Leiden, welches jede ungerechte Handlung notwendig über Andere bringt, geht in edlen Gemütern die Maxime: Verletze Niemand! (neminem laede!) hervor, und die vernünftige Überlegung erhebt sie zu dem ein für Alle Mal gefassten festen Vorsatz, die Rechte eines Jeden zu achten, sich keinen Eingriff in dieselben zu erlauben. In den einzelnen Handlungen des Gerechten wirkt demnach das Mitleid nur noch indirekt, mittelst des Grundsatzes, und nicht sowohl actu, als potentia. (E. 214 fg.)

2) Seltenheit der echten Gerechtigkeit.

Das Maß der echten, freiwilligen, uneigennützigen und ungeschminkten Gerechtigkeit ist gering. Dieselbe kommt immer nur als überraschende Ausnahme vor und verhält sich zu ihrer Afterart, der auf bloßer Klugheit beruhenden und überall laut angekündigten Gerechtigkeit, der Qualität und Quantität nach, wie Gold zu Kupfer. Diese letztere lässt sich als δικαιοσυνη, die erste als ουρανια bezeichnen. (E. 216.)

3) Grade der Gerechtigkeit.

So wie bei jeder ungerechten Handlung das Unrecht zwar der Qualität nach dasselbe ist, nämlich Verletzung eines Anderen (sei es an seiner Person, oder Freiheit, oder Eigentum, oder Ehre), aber der Quantität nach sehr verschieden sein kann; eben so verhält es sich mit der Gerechtigkeit der Handlungen. Der Reiche z. B., welcher seinen Tagelöhner bezahlt, handelt gerecht; aber wie klein ist diese Gerechtigkeit gegen die eines Armen, der eine gefundene Goldbörse dem Reichen freiwillig zurückbringt. Das Maß der so bedeutenden Verschiedenheit in der Quantität der Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit ist kein direktes und absolutes, wie das auf dem Maßstabe, sondern ein mittelbares und relatives, wie das der Sinus und Tangenten. Es lässt sich dafür folgende Formel aufstellen: die Größe der Ungerechtigkeit meiner Handlung ist gleich der Größe des Übels, welches ich einem Anderen dadurch zufüge, dividiert durch die Größe des Vorteils, den ich selbst dadurch erlange; — und die Größe der Gerechtigkeit meiner Handlung ist gleich der Größe des Vorteils, den mir die Verletzung des Anderen bringen würde, dividiert durch die Größe des Schadens, den er dadurch erleiden würde. (E. 219.)
Der höchste Grad der Gerechtigkeit der Gesinnung (deren Vorsatz es ist, in der Bejahung des eigenen Willens nicht so weit zu gehen, dass man die fremden Willenserscheinungen verneint, indem man sie dem eigenen zu dienen zwingt), geht so weit, dass man seine Rechte auf ererbtes Eigentum in Zweifel zieht, den Leib nur durch die eigenen Kräfte, geistige oder körperliche, erhalten will, jede fremde Dienstleistung, jeden Luxus als einen Vorwurf empfindet und zuletzt zur freiwilligen Armut greift. Pascal z. B. wollte keine Bedienung mehr leiden, obgleich er Dienerschaft genug hatte. Manche Hindu, sogar Radschahs, verwenden ihren Reichtum nur zum Unterhalt der Ihrigen, ihres Hofes und ihrer Dienerschaft, und befolgen mit strenger Skrupulosität die Maxime, nichts zu essen, als was sie selbst eigenhändig gesät und geerntet haben. Ein gewisses Missverständnis liegt dabei doch zum Grunde; denn der Einzelne kann, gerade weil er reich und mächtig ist, dem Ganzen der menschlichen Gesellschaft so beträchtliche Dienste leisten, dass sie dem ererbten Reichtum gleichwiegen, dessen Sicherung er der Gesellschaft verdankt. Eigentlich ist jene übermäßige Gerechtigkeit schon mehr als Gerechtigkeit, nämlich wirklich Entsagung, Verneinung des Willens zum Leben, Askese. (W. I, 438.)

4) Die Gerechtigkeit als Vorstufe zur Resignation.

Die moralischen Tugenden, Gerechtigkeit und Menschenliebe, sind ein Beförderungsmittel der Selbstverleugnung und demnach der Verneinung des Willens zum Leben. Denn die wahre Rechtschaffenheit, die unverbrüchliche Gerechtigkeit, diese erste und wichtigste Kardinaltugend, ist eine so schwere Aufgabe, dass, wer sich unbedingt und aus Herzensgrund zu ihr bekennt, Opfer zu bringen hat, die dem Leben bald die Süße, welche das Genügen an ihm erfordert, benehmen und dadurch den Willen von demselben abwenden, also zur Resignation leiten. (W. II, 694.)

II. Die vergeltende Gerechtigkeit.

Die zeitliche Gerechtigkeit, welche im Staate ihren Sitz hat, d. i. die vergeltende oder strafende Gerechtigkeit, wird allein durch die Rücksicht auf die Zukunft zur Gerechtigkeit; da ohne solche Rücksicht alles Strafen und Vergelten eines Frevels ohne Rechtfertigung bliebe, ja, ein bloßes Hinzufügen eines zweiten Übels zum Geschehenen wäre, ohne Sinn und Bedeutung. (W. I, 414.)

III. Die ewige Gerechtigkeit.

1) Gegensatz zwischen der ewigen und zeitlichen Gerechtigkeit.

Die ewige, nicht den Staat, sondern die Welt beherrschende Gerechtigkeit ist nicht von menschlichen Einrichtungen abhängig, nicht dem Zufall und der Täuschung unterworfen, nicht unsicher, schwankend und irrend, sondern unfehlbar, fest und sicher. Da der Begriff der Vergeltung die Zeit in sich schließt, so kann die ewige Gerechtigkeit keine vergeltende sein, kann also nicht, wie diese, Aufschub und Frist gestatten und, nur mittelst der Zeit die schlimme Tat mit der schlimmen Folge ausgleichend, der Zeit bedürfen, um zu bestehen. Vielmehr muss hier die Strafe mit dem Vergehen so verbunden sein, dass beide Eines sind. (W. I, 414.)

2) Worauf die ewige Gerechtigkeit beruht.

Der Beschaffenheit des Willens muss seine Erscheinung genau entsprechen; hierauf beruht die ewige Gerechtigkeit. (W. II, 677.) Die Welt selbst ist das Weltgericht. (W. I, 415.)
Die Welt ist gerade eine solche (so leiden- und übelvolle), weil der Wille, dessen Erscheinung sie ist, ein solcher ist, weil er so will. Für die Leiden ist die Rechtfertigung die, dass der Wille auch auf diese Erscheinung sich selbst bejaht; und diese Bejahung ist gerechtfertigt und ausgeglichen dadurch, dass er die Leiden trägt. (W. I, 390.) Die Welt in aller Vielheit ihrer Teile und Gestalten ist die Erscheinung des einen Willens zum Leben. In jedem Dinge erscheint der Wille gerade so, wie er sich selbst an sich und außer der Zeit bestimmt. Die Welt ist nur der Spiegel dieses Wollens, und alle Endlichkeit, alle Leiden, alle Qualen, welche sie enthält, gehören zum Ausdruck dessen, was er will, sind so, weil er so will. Mit dem strengsten Rechte trägt sonach jedes Wesen das Dasein überhaupt, sodann das Dasein seiner Art und seiner eigentümlichen Individualität, ganz wie sie ist und unter Umgebungen, wie sie sind, in einer Welt so wie sie ist, vom Zufall und vom Irrtum beherrscht, zeitlich, vergänglich, stets leidend; und in Allem, was ihm widerfährt, geschieht ihm immer Recht. Denn sein ist der Wille; und wie der Wille ist, so ist die Welt. Jammer und Schuld der Welt halten einander die Waage. (W. I, 415 fg. P. II, 233. M. 304 fg.)

3) Ursache des Verkennens der ewigen Gerechtigkeit und Bedingung des Erkennens derselben.

Dem in der Erkenntnis, welche dem Satz vom Grunde folgt, in dem principio individuationis befangenen Blick des rohen Individuums, d. h. dem Blick, der statt in aller Erscheinung das eine Wesen an sich der Dinge zu erfassen, nur an den einzelnen, in Zeit und Raum (dem principio individuationis) gesonderten, getrennten, unzählbaren, sehr verschiedenen, ja entgegengesetzten Erscheinungen kleben bleibt, — diesem, wie die Inder sagen, durch den Schleier der Maja getrübten Blick entgeht die ewige Gerechtigkeit; er vermisst sie, wenn er sie nicht etwa durch Fiktionen rettet. Er sieht den Bösen nach Untaten und Grausamkeiten aller Art in Freuden leben und unangefochten aus der Welt gehen. Er sieht den Unterdrückten ein Leben voll Leiden bis ans Ende schleppen, ohne dass sich ein Rächer, ein Vergelter zeige. Dieser Mensch erscheint ihm als Peiniger und Mörder, jener als Dulder und Opfer. Den Einen sieht er in Freuden, Überfluss und Wollüsten leben, den Anderen vor dessen Türe durch Mangel und Kälte qualvoll sterben. Da fragt er: wo bleibt die Vergeltung. Er würde so nicht fragen, wenn er erkennte: die Person ist bloße Erscheinung, und ihre Verschiedenheit von anderen Individuen und das Freisein von den Leiden, welche diese tragen, beruht auf der Form der Erscheinung, dem principio individuationis; dem wahren Wesen der Dinge nach hat Jeder alle Leiden der Welt als die seinigen zu betrachten. — Die ewige Gerechtigkeit wird nur Der begreifen und fassen, der über die an die einzelnen Erscheinungen gebundene Erkenntnis sich erhebt und das principium individuationis durchschaut. Diesem wird es deutlich, dass, weil der Wille das Ansich aller Erscheinung ist, die über Andere verhängte und die selbsterfahrene Qual, das Böse und das Übel, immer nur jenes Eine und selbe Wesen treffen, wenngleich die Erscheinungen, in welchen das Eine und das Andere sich darstellt, als ganz verschiedene Individuen dastehen. Er sieht ein, dass die Verschiedenheit zwischen Dem, der das Leiden verhängt, und Dem, welcher es dulden muss, nur Phänomen ist und nicht das Ding an sich trifft, welches der in beiden lebende Wille ist, der hier, durch die an seinen Dienst gebundene Erkenntnis getäuscht, sich selbst verkennt, in einer seiner Erscheinungen gesteigertes Wohlsein suchend, in der anderen großes Leiden hervorbringt und so die Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt. (W. I, 416—419. 422 fg.)

IV. Die poetische Gerechtigkeit.

Die Forderung der sogenannten poetischen Gerechtigkeit beruht auf gänzlichem Verkennen des Wesens des Trauerspiels, ja selbst des Wesens der Welt. Nur die platte optimistische, protestantisch-rationalistische, oder eigentlich jüdische Weltansicht wird die Forderung der poetischen Gerechtigkeit machen und an deren Befriedigung ihre eigene finden. Der wahre Sinn des Trauerspiels ist die tiefere Einsicht, dass was der Held abbüßt, nicht seine Partikularsünden sind, sondern die Erbsünde, d. h. die Schuld des Daseins selbst. (W. I, 299 fg. H. 165 fg.) Das Trauerspiel ist der wahre Gegensatz aller Philisterei; es ist der Ausspruch der Unzulänglichkeit aller praktischen Vernunft. Philister lieben daher nicht das Trauerspiel, haben die poetische Gerechtigkeit erfunden. (M. 315.)
Alle großen Tragiker, Sophokles, Shakespeare, Calderon, Göthe, haben dem Prinzip der poetischen Gerechtigkeit Hohn gesprochen. Was hat die Desdemona, die Ophelia, die Cordelia verschuldet? — was der Egmont, der standhafte Prinz, der Ödip? — selbst Lear? — einen Irrtum aus Altersschwäche. Sogar Schiller, der den Don Carlos und den Posa elend enden ließ, dürfte daher sich mokieren über das protestantische, kategorische Imperativ-Prinzip der poetischen Gerechtigkeit: Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch. (M. 578.)
Mit Dreistigkeit tritt die Forderung der poetischen Gerechtigkeit in ihrer ganzen Planheit auf in Dr. Samuel Johnsons zu den einzelnen Stücken Shakespeares gelieferten Kritiken. (W. I, 299.)