rel='stylesheet' type='text/css'>
Schopenhauers Kosmos

 

 Genie. Genialität.

1) Wesen des Genies im Allgemeinen.

Das Wesen des Genies besteht in der Fähigkeit zu jener ganz im Objekt aufgehenden reinen Kontemplation, durch welche die Ideen der Dinge aufgefasst werden. Da nun diese ein gänzliches Vergessen der eigenen Person und ihrer Beziehungen verlangt; so ist Genialität nichts Anderes, als die vollkommenste Objektivität, d. h. objektive Richtung des Geistes, entgegengesetzt der subjektiven, auf die eigene Person, d. i. den Willen, gehenden. Demnach ist Genialität die Fähigkeit, sich rein anschauend zu verhalten, sich in die Anschauung zu verlieren und die Erkenntnis, welche ursprünglich nur zum Dienste des Willens da ist, diesem Dienste zu entziehen, sonach seiner Persönlichkeit sich auf eine Zeit völlig zu entäußern, um als rein erkennendes Subjekt, klares Weltauge übrig zu bleiben; und dieses nicht auf Augenblicke, sondern so anhaltend und mit so viel Besonnenheit, als nötig ist, um das Aufgefasste durch überlegte Kunst zu wiederholen. Damit der Genius in einem Individuum hervortrete, muss diesem ein Maß der Erkenntniskraft zugefallen sein, welches das zum Dienste eines individuellen Willens erforderliche weit übersteigt, welcher frei gewordene Überschuss der Erkenntnis jetzt zum willensreinen Subjekt, zum hellen Spiegel des Wesens der Welt wird. (W. I, 218 fg. W. II, 230. 428. 435 fg. N. 70. P. II, 72. 451.)
Im Genie erreicht der freie und daher abnorme Gebrauch des Intellekts den Grad, wo das Erkennen zur Hauptsache, zum Zweck des ganzen Lebens wird, das eigene Dasein hingegen zur Nebensache, zum bloßen Mittel herabsinkt, also das normale Verhältnis sich gänzlich umkehrt. Demnach lebt das Genie im Ganzen genommen mehr in der übrigen Welt mittelst der erkennenden Auffassung derselben, als in seiner eigenen Person. Ihm benimmt die ganz abnorme Erhöhung der Erkenntniskräfte die Möglichkeit, seine Zeit durch das bloße Dasein und dessen Zwecke auszufüllen; sein Geist bedarf beständiger und starker Beschäftigung. (P. II, 74. W. II, 438.)

2) Die geniale Erkenntnisweise.

Die wesentliche Erkenntnisweise des Genies ist die anschauende und zwar nicht die, deren Gegenstand die einzelnen Dinge und deren Beziehungen sind, sondern die in diesen sich aussprechenden Platonischen Ideen. (W. II, 432.) Da die geniale Erkenntnis, als Erkenntnis der Idee, diejenige ist, welche dem Satz vom Grund nicht folgt, hingegen die, welche ihm folgt, im Leben Klugheit und Vernünftigkeit erteilt und die Wissenschaften zu Stande bringt; so werden geniale Individuen mit den Mängeln behaftet sein, welche die Vernachlässigung der letzteren Erkenntnisweise nach sich zieht. Die Abneigung genialer Individuen, die Aufmerksamkeit auf den Inhalt des Satzes vom Grund zu richten, wird sich zuerst in Hinsicht auf den Grund des Seins (vergl. unter Grund: Grund des Seins) zeigen als Abneigung gegen Mathematik. Auch hat die Erfahrung bestätigt, dass große Genies in der Kunst keine Fähigkeit zur Mathematik haben. Da ferner scharfe Auffassung der Beziehungen der Dinge gemäß dem Gesetze der Kausalität und Motivation eigentlich die Klugheit ausmacht, die geniale Erkenntnis aber nicht auf die Relationen, sondern auf das Wesen der Dinge gerichtet ist, so wird ein Genialer, sofern und während er es ist, nicht klug sein. Endlich steht überhaupt die anschauliche Erkenntnis, in deren Gebiet die Idee liegt, der vernünftigen oder abstrakten, welche der Satz vom Grund des Erkennens leitet (s. unter Grund: Erkenntnisgrund) gerade entgegen. Daher ist große Genialität nicht mit vorherrschender Vernünftigkeit gepaart. (W. I, 222 fg.)
Die Verwandtschaft zwischen Genialität und Wahnsinn beruht auf der beiden mangelnden Erkenntnis der Relationen der Dinge. Wenn der Wahnsinnige das einzelne Gegenwärtige, auch manches einzelne Vergangene richtig erkennt, aber den Zusammenhang, die Relationen verkennt und daher irreredet, so ist eben dies der Punkt seiner Berührung mit dem genialen Individuum; denn auch dieses, da es die Erkenntnis der Relationen oder die dem Satz des Grundes gemäße Erkenntnis verlässt, um in den Dingen nur ihre Ideen zu suchen, lässt darüber die Erkenntnis des Zusammenhanges der Dinge aus den Augen; das einzelne Objekt seiner Beschauung, oder die übermäßig lebhaft von ihm aufgefasste Gegenwart erscheinen in so hellem Licht, dass gleichsam die übrigen Glieder der Kette, zu der sie gehören, dadurch in Dunkel zurücktreten, und dies gibt eben Phänomene, die mit denen des Wahnsinns eine längst erkannte Ähnlichkeit haben. (W. I, 228. Vergl. auch Wahnsinn.) Zwischen dem Genie und dem Wahnsinn ist die Ähnlichkeit, dass sie in einer anderen Welt leben, als die für Alle vorhandene. (H. 357.)

3) Ein wesentlicher Bestandteil der Genialität.

Ein wesentlicher Bestandteil der Genialität ist die Phantasie. Da die Objekte des Genius als solchen die ewigen Ideen, die beharrenden wesentlichen Formen der Welt und aller ihrer Erscheinungen sind, die Erkenntnis der Idee aber notwendig anschaulich, nicht abstrakt ist; so würde die Erkenntnis des Genius beschränkt sein auf die Ideen der seiner Person wirklich gegenwärtigen Objekte und abhängig von der Verkettung der Umstände, die ihm jene zuführen, wenn nicht die Phantasie seinen Horizont weit über die Wirklichkeit seiner persönlichen Erfahrung erweiterte und ihn in den Stand setzte, aus dem Wenigen, was in seine wirkliche Apperzeption gekommen, alles Übrige zu konstruieren und so fast alle möglichen Lebensbilder an sich vorübergehen zu lassen. Zudem sind die wirklichen Objekte fast immer nur sehr mangelhafte Exemplare der in ihnen sich darstellenden Idee; daher der Genius der Phantasie bedarf, um in den Dingen nicht Das zu sehen, was die Natur wirklich gebildet hat, sondern was sie zu bilden bestrebt war. Die Phantasie erweitert also den Gesichtskreis des Genius über die seiner Person sich wirklich darbietenden Objekte sowohl der Qualität, als der Quantität nach. Deshalb ist ungewöhnliche Stärke der Phantasie Begleiterin, ja Bedingung der Genialität. (W. I, 219 fg. W. II, 431.)

4) instinktartige Notwendigkeit des Wirkens des Genies.

Daraus, dass die Erkenntnisweise des Genies wesentlich die von allem Wollen und seinen Beziehungen gereinigte ist, folgt, dass die Werke desselben nicht aus Absicht oder Willkür hervorgehen, sondern es dabei geleitet ist von einer instinktartigen Notwendigkeit. (W. II, 433.) Das Unvorsätzliche, Unabsichtliche, ja zum Teil Unbewusste und Instinktive, welches man von jeher an den Werken des Genies bemerkt hat, ist die Folge davon, dass die künstlerische Urerkenntnis eine vom Willen ganz gesonderte und unabhängige, eine willensreine, willenslose ist. Und eben weil der Wille der eigentliche Mensch ist, schreibt man jene einem von diesem verschiedenen Wesen, einem Genius zu. (P. II, 451.)
Jedoch ist der Genius im Leben der genialen Individuen nicht in jedem Augenblick tätig, da die große, wiewohl spontane Anspannung, welche zur willensfreien Auffassung der Ideen erfordert wird, notwendig wieder nachlässt und große Zwischenräume hat, in welchen das geniale Individuum den gewöhnlichen Menschen ziemlich gleich steht. Man hat dieserhalb das Wirken des Genius von je her als eine Inspiration, ja, wie der Name selbst bezeichnet, als das Wirken eines vom Individuum selbst verschiedenen übermenschlichen Wesens angesehen, das nur periodisch jenes in Besitz nimmt. (W. I, 222.)

5) Charakter der Produktionen des Genies.

Dass das Genie im Wirken des freien, d. h. vom Dienste des Willens emanzipierten Intellekts besteht, — dies hat zur Folge, dass die Produktionen desselben keinen nützlichen Zwecken dienen. Es werde musiziert, oder philosophiert, gemalt oder gedichtet; — ein Werk des Genies ist kein Ding zum Nutzen. Unnütz zu sein, gehört zum Charakter der Werke des Genies; es ist ihr Adelsbrief. Während alle übrigen Menschenwerke da sind zur Erhaltung, oder Erleichterung unserer Existenz; so sind die Werke des Genies ihrer selbst wegen da, sind als die Blüte, oder der reine Ertrag des Daseins anzusehen. (W. II, 442.)
Dass die Werke des Genies die aller Anderen himmelweit übertreffen, kommt bloß daher, dass die Welt, die es sieht, und der es seine Aussagen entnimmt, so viel klarer, gleichsam tiefer herausgearbeitet ist, als die in den Köpfen der Andern, welche freilich die selben Gegenstände enthält, aber zu jener sich verhält, wie ein chinesisches Bild, ohne Schatten und Perspektive, zum vollendeten Ölgemälde. (W. II, 81.) An dem Treffenden, Originellen und der Sache stets genau Angepassten des Ausdrucks, an dem Naiven der Aussagen, an der Neuheit der Bilder und dem Schlagenden der Gleichnisse, welches Alles die Werke großer Köpfe auszeichnet, denen der Anderen hingegen stets abgeht, erkennt man, dass jene stets in Gegenwart der Anschauung gedacht und den Blick unverwandt auf sie geheftet bei ihrem Denken. (W. II, 78.)

6) Anatomische und physiologische Bedingungen des Genies.

Von der somatischen Seite betrachtet, ist das Genie durch mehrere anatomische und physiologische Eigenschaften bedingt, deren seltenes Beisammensein die Seltenheit des Genies erklärt. Die Grundbedingung ist ein abnormes Überwiegen der Sensibilität über die Irritabilität und Reproduktionskraft, und zwar, was die Sache erschwert, auf einem männlichen Körper. Imgleichen muss das Zerebralsystem vom Gangliensystem durch vollkommene Isolation rein geschieden sein, so dass das Gehirn ein möglichst unabhängiges Leben führt. Freilich wird es durch sein erhöhtes Leben und rastlose Tätigkeit leicht aufreibend auf den übrigen Organismus wirken, wenn nicht auch er selbst von energischer Lebenskraft und guter Konstitution ist. Darum gehört auch dies Letztere zu den Bedingungen. Ja, sogar ein guter Magen gehört dazu, wegen des speziellen und engen Konsensus dieses Teiles mit dem Gehirn. Hauptsächlich aber muss das Gehirn von ungewöhnlicher Entwicklung und Größe, besonders breit und hoch sein; hingegen wird die Tiefendimension zurückstehen, und das große Gehirn im Verhältnis gegen das kleine abnorm überwiegen. Die Textur der Gehirnmasse muss von der äußersten Feinheit und Vollendung sein und aus der erregbarsten Nervensubstanz bestehen; gewiss hat auch das quantitative Verhältnis der weißen und grauen Substanz entschiedenen Einfluss. Im Gegensatz zum überwiegenden Gehirn müssen Rückenmark und Nerven ungewöhnlich dünn sein. Ein schön gewölbter, hoher und breiter Schädel, von dünner Knochenmasse, muss das Gehirn schützen, ohne es einzuengen. Zu dieser Beschaffenheit des Gehirns und Nervensystems, welche als Erbteil von der Mutter zu betrachten ist, muss, als Erbteil vom Vater, hinzukommen ein lebhaftes, leidenschaftliches Temperament, sich somatisch darstellend als ungewöhnliche Energie des Herzens und folglich des Blutumlaufs, zumal nach dem Kopfe hin. Denn hierdurch wird zunächst jene dem Gehirn eigene Turgeszenz vermehrt, vermöge deren es gegen seine Wände drückt; zweitens erhält durch die gehörige Kraft des Herzens das Gehirn diejenige innere, von seiner beständigen Hebung und Senkung bei jedem Atemzuge noch verschiedene Bewegung, welche in einer Erschütterung seiner ganzen Masse bei jedem Pulsschlag der vier Zerebral-Arterien besteht und deren Energie seiner hier vermehrten Quantität entsprechen muss, wie denn diese Bewegung überhaupt eine unerlässliche Bedingung seiner Tätigkeit ist. (W. II, 447 fg.)

7) Kindlicher Charakter des Genies.

Die Ähnlichkeit, welche zwischen dem Genie und dem Kindesalter Statt findet, beruht auf dem Beiden eigentümlichen Überschuss der Erkenntniskräfte über die Bedürfnisse des Willens und dem daraus entspringenden Vorwalten der bloß erkennenden Tätigkeit. Wirklich ist jedes Kind gewissermaßen ein Genie, und jedes Genie gewissermaßen ein Kind. Die Verwandtschaft Beider zeigt sich zunächst in der Naivität und erhabenen Einfalt, welche ein Grundzug des echten Genies ist; sie tritt außerdem in manchen Zügen an den Tag, so dass eine gewisse Kindlichkeit allerdings zum Charakter des Genies gehört. Jedes Genie ist schon darum ein großes Kind, weil es in die Welt hineinschaut als in ein Fremdes, ein Schauspiel, daher mit objektivem Interesse. Jenes dem Kindesalter natürliche Überwiegen des sensiblen Systems und der erkennenden Tätigkeit erhält sich beim Genie, abnormer Weise, das ganze Leben hindurch, wird also hier ein perennierendes. (W. II, 449—452.)

8) Das Genie in ethischer Hinsicht.

Im genialen Individuum bemeistert während des Zustandes der reinen Kontemplation gleichsam das Akzidenz (der Intellekt) die Substanz (den Willen) und hebt sie auf, wenn gleich nur auf eine kurze Weile. Hier liegt die Analogie und sogar Verwandtschaft der Genialität mit der Heiligkeit, der Verneinung des Willens. (W. II, 420.) Heiligkeit und Genie haben eine Verwandtschaft. Sei ein Heiliger auch noch so einfältig, er wird doch einen genialen Zug haben; und habe ein Genie noch so viele Temperaments-, ja wirkliche Charakterfehler, so wird es doch eine gewisse Erhabenheit der Gesinnung zeigen, wodurch es dem Heiligen verwandt ist. (H. 399.) Im Genie ist der allein lautere und unschuldige Teil des menschlichen Wesens, der Intellekt, das Überwiegende und Vorwaltende. Hierin liegt im Grunde die eigentliche Würde des Menschen von Genie und Das, was ihn über die Anderen erhebt, in denen nichts ist, als der sündige Wille mit so viel Intellekt, als erfordert ist, seine Schritte zu lenken. (H. 399.) Das Genie führt zum Heil und zur Erlösung; denn es ist immer das Leiden, das angeschaute, oder das selbstempfundene, was den Willen zum Leben bricht und dadurch von dieser Welt, die seine Sichtbarkeit ist, erlöst. Nun ist schon Das dem Genie als solchem eigene Leiden, seine Öde und Einsamkeit in einer ihm heterogenen Welt, hinreichend, den Willen zum Leben zu brechen und ihn abzuwenden von dieser freudenleeren Welt. (H. 360.)
Geniale haben oft heftige Begierden, sind der Wollust und dem Zorn ergeben. Zu großen Verbrechen kommen sie jedoch nicht, weil, wenn diese sich ihnen darbieten, sie die Idee derselben lebhaft und tief erkennen und nun diese Erkenntnis die Übermacht über den Willen gewinnt, ihn nunmehr (eben wie beim Heiligen) wendet, und die Missetat also unterbleibt. Immer also partizipiert das Genie etwas von der Heiligkeit, indem es die Bedingung zu dieser hat, so wie der Heilige etwas vom Genie. (M. 275. H. 136.)
Kein Mann von Genie war je ein Bösewicht, weil die Bosheit die Äußerung eines so heftigen Wollens ist, dass selbiges den Intellekt allein zu seinem Dienste braucht und nicht zulässt, dass er frei werde zu einer rein objektiven Betrachtung der Dinge. Ein Bösewicht kann einen gewaltigen Intellekt haben, aber er kann ihn nur auf Das richten, was irgend eine Beziehung auf seinen Willen hat. (H. 399.)
In dem entschiedenen Überwiegen des Erkennens über das Wollen liegt die Verwandtschaft zwischen Tugend und Genie. Der Unterschied liegt aber darin, dass das Übergewicht des Erkennens beim Genie sich als solches, d. h. als vollkommene Erkenntnis äußert; im Tugendhaften aber seine Macht auf den Willen übt und durch die Lenkung dieses sich äußert. Ferner ist beim Genie die Intensität der Geisteskräfte eine absolute, ein sehr hoher Grad schlechthin. Hingegen ist zur Tugend und Güte nur eine relative, d. h. im Verhältnis zum individuellen Willen große Intensität der Erkenntniskraft erfordert, die wohl oft durch die geringe natürliche Heftigkeit des Wollens unterstützt wird. (H. 400.)
Der mit Genie Begabte opfert sich in seinen Werken ganz für das Ganze. Daher ist er frei von der Verbindlichkeit, sich im Einzelnen für Einzelne zu opfern. Dieserwegen kann er manche Anforderung abweisen, die Andere billig erfüllen müssen. Er leidet und leistet doch mehr, als alle Andern. (M. 275.)

9) Gegensatz zwischen dem Genialen und dem gewöhnlichen Menschen.

Der gewöhnliche Mensch, diese Fabrikware der Natur, ist einer völlig uninteressierten Betrachtung der Dinge, welches die eigentliche Beschaulichkeit ist, nicht, wenigstens nicht anhaltend fähig. Er richtet seine Aufmerksamkeit auf die Dinge nur insofern, als sie irgendeine, wenn auch nur sehr mittelbare Beziehung auf seinen Willen haben. Der Geniale dagegen verweilt bei der Betrachtung des Lebens selbst, strebt die Idee jedes Dinges zu erfassen, nicht dessen Relationen zu anderen Dingen und zum Willen. Während dem gewöhnlichen Menschen sein Erkenntnisvermögen die Laterne ist, die seinen Weg beleuchtet, ist es dem Genialen die Sonne, welche die Welt offenbar macht. Diese so verschiedene Weise, in das Leben hineinzusehen, wird auch im Äußern Beider sichtbar. Der Blick des Genialen trägt den Charakter der Beschaulichkeit, hingegen wird im Blick der Gewöhnlichen, wenn er nicht stumpf oder nüchtern ist, leicht der wahre Gegensatz der Kontemplation, das Spähen, sichtbar. (W. I, 221. P. II, 73—76. W. II, 433—435.) Wenn der Normalmensch aus 2/3 Wille und 1/3 Intellekt besteht; so hat hingegen das Genie 2/3 Intellekt und 1/3 Wille. (W. II, 429.) Im Einzelnen stets das Allgemeine zu sehen ist der Grundzug des Genies, während der Normalmensch im Einzelnen auch nur das Einzelne als solches erkennt, da es nur als solches der Wirklichkeit angehört, welche allein für ihn Interesse, d. h. Beziehungen zu seinem Willen hat. (W. II, 432.) Der gewöhnliche Mensch wird, wenn ihm hundert Wünsche fehlschlagen, den 101ten aufrichten, unermüdlich im Hoffen und auf tausendfältige Art zu befriedigen. Dem Genie gibt sein beigesellter heftiger Wille den Anlass zur Entzweiung mit der Welt, welche dem interesselosen Kontemplieren derselben vorhergehen muss. (H. 355.) Der Normalmensch ist gänzlich auf das Sein verwiesen; das Genie hingegen lebt und webt im Erkennen. Daraus folgt, da alle Dinge herrlich zu sehen, aber schrecklich zu sein, dass auf dem Leben der gewöhnlichen Leute ein dumpfer, trüber, einförmiger Ernst liegt, während auf der Stirn des Genies eine Heiterkeit eigener Art glänzt, welche, obschon seine Schmerzen heftiger sind, als die der Gewöhnlichen, doch immer noch durchbricht, wie die Sonne durch Regenwolken; welches am sichtbarsten wird, wenn man das Genie mit den Anderen in gleicher Bedrängnis erblickt; da erkennt man, dass es zu diesen sich verhält, wie der Mensch, dem allein das Lachen zusteht, zu dem in dumpfem Ernst dahinlebenden Tiere. (H. 355. W. II, 433. 437.) Wie offenbar die Tiere manche Verstandesverrichtungen, wie z. B. das Zurückfinden eines Weges, das Erkennen einer Person u. dgl. weit besser, als der Mensch vollziehen; — eben so ist zu vielen Angelegenheiten des wirklichen Lebens das Genie ungleich weniger fähig und tauglich, als der gemeine Kopf. Und wie ferner die Tiere eigentlich nie auf Narrheiten geraten; eben so ist diesen der gewöhnliche Mensch nicht in dem Grade unterworfen, wie das Genie. (H. 356. W. II, 441 fg. P. II, 75. 617.)

10) Unterschied zwischen Genie und Talent.

Das Talent ist ein Vorzug, der mehr in der größeren Gewandtheit und Schärfe der diskursiven, als der intuitiven Erkenntnis liegt. Der damit Begabte denkt rascher und richtiger als die Übrigen; das Genie hingegen schaut eine andere Welt an, als sie Alle, wiewohl nur indem es in die auch ihnen vorliegende tiefer hineinschaut, weil sie in seinem Kopfe sich objektiver, mithin reiner und deutlicher darstellt. (W. II, 428.) Die Werke des Genies entspringen aus der Anschauung, die des bloßen Talents hingegen aus Begriffen. (W. II, 431.) Die Untersuchung der einzelnen Phänomene ist das Feld der Talente in den Realwissenschaften, deren Gegenstand eigentlich immer nur die Beziehungen der Dinge zu einander sind. Der eigentliche Gegenstand des Genies hingegen ist das Wesen der Dinge überhaupt, das Allgemeine in ihnen, das Ganze. (W. II, 432.) Das Talent vermag zu leisten was die Leistungsfähigkeit, jedoch nicht die Apprehensionsfähigkeit der Übrigen überschreitet; daher findet es sogleich seine Schätzer. Hingegen geht die Leistung des Genies nicht nur über die Leistungs-, sondern auch über die Apprehensionsfähigkeit der Anderen hinaus; daher werden diese seiner nicht unmittelbar inne. Das Talent gleicht dem Schützen, der ein Ziel trifft, welches die Übrigen nicht erreichen können; das Genie Dem, der eines trifft, bis zu welchem sie nicht einmal zu sehen vermögen. (W. II, 446.)
Das Talent arbeitet um Geld und Ruhm; hingegen ist die Triebfeder, welche das Genie zur Ausarbeitung seiner Werke bewegt, ein Instinkt ganz eigener Art. Das Genie produziert aus derselben Notwendigkeit, mit welcher der Baum seine Früchte trägt. Näher betrachtet, ist es, als ob in einem genialen Individuum der Wille zum Leben als Geist der Menschengattung sich bewusst würde, hier eine größere Klarheit des Intellekts durch einen seltenen Zufall auf eine kurze Spanne Zeit erlangt zu haben und nun wenigstens die Resultate oder Produkte jenes klaren Schauens und Denkens für die ganze Gattung zu erwerben trachtete. (P. II, 91 fg.)
Die bloßen Talentmänner kommen stets zu rechter Zeit; denn, wie sie vom Geiste ihrer Zeit angeregt und von dem Bedürfnis derselben hervorgerufen werden; so sind sie auch gerade nur fähig, diesem zu genügen. Sie greifen daher ein in den fortschreitenden Bildungsgang ihrer Zeitgenossen, oder in die schrittweise Förderung einer speziellen Wissenschaft; dafür wird ihnen Lohn und Beifall. Der nächsten Generation jedoch sind ihre Werke nicht mehr genießbar. Das Genie hingegen trifft in seine Zeit, wie ein Komet in die Planetenbahnen, deren wohlgeregelter und übersehbarer Ordnung sein völlig exzentrischer Lauf fremd ist. Demnach kann es nicht eingreifen in den vorgefundenen regelmäßigen Bildungsgang der Zeit, sondern wirft seine Werke weit hinaus in die vorliegende Bahn, auf welcher die Zeit solche erst einzuholen hat. Daher steht das Genie in seinem Treiben und Leisten meistens mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampf. (W. II, 445 fg.)
Das Wesen des Genies ist ein Maß der Erkenntniskraft, welches das zum Dienst des Willens erforderliche weit übersteigt. Aber dies ist eine bloß relative Bestimmung; sie wird erreicht sowohl durch Herabstimmung des Willens, als durch Erhöhung der Erkenntnis. Es gibt Menschen, bei denen das Erkennen über das Wollen überwiegend ist ohne eigentliches Genie. Ihre Erkenntniskraft ist zwar größer, als die gewöhnliche, jedoch nicht in hohem Grade; ihr Wille aber ist schwach; sie wollen nicht heftig; daher beschäftigt sie das Erkennen an und für sich mehr, als ihre Zwecke; sie sind Leute von Talent, verständig und dabei sehr genügsam und heiter. Ein solcher war Fernow. (H. 354.) Phlegmatisches Talent ist möglich, aber phlegmatisches Genie ist unmöglich. (W. II, 449.)

11) Gegensatz zwischen Genie und Gelehrsamkeit.

(S. Gelehrsamkeit.)

12) Gegensatz zwischen dem Genie und dem praktischen Helden.

Das Genie steht der Fähigkeit zum praktischen Wirken geradezu entgegen, zumal auf dem höchsten Tummelplatz derselben, wo sie sich im politischen Welttreiben hervortut; weil eben die hohe Vollkommenheit und seine Empfänglichkeit des Intellekts die Energie des Willens hemmt, diese aber, als Kühnheit und Festigkeit auftretend, wenn nur mit einem tüchtigen geraden Verstande, richtigem Urteil und einiger Schlauheit ausgestattet, es gerade ist, die den Staatsmann, den Feldherrn, und, wenn sie bis zur Verwegenheit und dem Starrsinn geht, unter günstigen Umständen auch den welthistorischen Charakter macht. Lächerlich aber ist es, bei dergleichen Leuten von Genie reden zu wollen. (P. II, 75.) Der kluge, ja der eminente Kopf, der zu großen Leistungen im Praktischen Gesegnete, ist es gerade dadurch, dass die Objekte seinen Willen lebhaft erregen und zum rastlosen Nachforschen ihrer Verhältnisse und Beziehungen anspornen. Sein Intellekt ist also mit dem Willen fest verwachsen. Vor dem genialen Kopf hingegen schwebt, in seiner objektiven Auffassung, die Erscheinung der Welt als ein ihm Fremdes, ein Gegenstand der Kontemplation, der sein Wollen aus dem Bewusstsein verdrängt. Um diesen Punkt dreht sich der Unterschied zwischen der Befähigung zu Taten und zu Werken. Die letztere verlangt Objektivität und Tiefe der Erkenntnis, welche gänzliche Sonderung des Intellekts vom Willen zur Voraussetzung hat; die erstere hingegen verlangt Anwendung der Erkenntnis, Geistesgegenwart und Entschlossenheit, welche erfordert, dass der Intellekt unausgesetzt den Dienst des Willens besorge. (W. II, 441 fg. P. II, 450.)

13) Vorteile und Nachteile der Genialität für das geniale Individuum.

a) Vorteile.

Das Genie ist sein eigener Lohn; denn das Beste was Einer ist, muss er notwendig für sich selbst sein. Wenn wir zu einem großen Manne der Vorzeit hinaufblicken, denken wir nicht: Wie glücklich ist er, von uns allen noch jetzt bewundert zu werden; sondern: Wie glücklich muss er gewesen sein im unmittelbaren Genuss eines Geistes, an dessen zurückgelassenen Spuren Jahrhunderte sich erquicken. Nicht im Ruhm, sondern in Dem, wodurch man ihn erlangt, liegt der Wert, und in der Zeugung unsterblicher Kinder der Genuss. (W. II, 440.)
Alle Pein geht aus dem Wollen hervor, das Erkennen hingegen ist an und für sich schmerzlos und heiter. Da nun beim Genie das Erkennen über das Wollen vorherrscht, der Intellekt vom Dienste des Willens losgesprochen ist, so genießen die Genies jene gleichsam überirdische Heiterkeit, die in ihren Physiognomien zum Ausdruck kommt und die sehr wohl mit ihrer sonstigen Melancholie zusammenbesteht. (W. II, 433.)
Der Mensch von überwiegenden Geisteskräften ist der lebhaftesten Teilnahme auf dem Wege der bloßen Erkenntnis, ohne alle Einmischung des Willens, fähig. Diese Teilnahme aber versetzt ihn in eine Region, welcher der Schmerz wesentlich fremd ist. Während das Leben der Gewöhnlichen in Dumpfheit dahingeht, indem ihr Dichten und Trachten gänzlich auf die kleinlichen Interessen der persönlichen Wohlfahrt und dadurch auf Miseren aller Art gerichtet ist, weshalb unerträgliche Langeweile sie befällt, sobald die Beschäftigung mit jenen Zwecken stockt und sie auf sich selbst zurückgewiesen sind; so hat dagegen der mit überwiegenden Geisteskräften Ausgestattete ein gedankenreiches, durchweg belebtes und bedeutsames Dasein, und in sich selbst trägt er eine Quelle der edelsten Genüsse. Er führt neben seinem persönlichen Leben noch ein zweites, Intellektuelles, welches ihn über jenes erhebt. Unser praktisches, reales Leben ist, wenn nicht die Leidenschaften es bewegen, langweilig und fade; wenn sie aber es bewegen, wird es bald schmerzlich; darum sind Die allein beglückt, denen irgend ein Überschuss des Intellekts über das zum Dienste des Willens erforderte Maß zu Teil geworden, und nach der Größe dieses Überschusses richtet sich die Größe ihres Lebensglückes. Ihr Intellektuelles Leben schützt nicht nur gegen die Langeweile, sondern auch gegen die Folgen derselben. (P. I, 356—358.)

b) Nachteile.

Das Genie ist ein seiner Bestimmung, dem Dienste des Willens, untreu gewordener Intellekt und insofern naturwidrig. Hierauf beruhen die demselben beigegebenen Nachteile:
Während der Intellekt des Normalmenschen, streng an den Dienst des Willens gebunden, bloß mit der Aufnahme der Motive beschäftigt ist und selbst der Intellekt des überaus verständigen und vernünftigen Mannes eine praktische Richtung behält, auf die Wahl der besten Zwecke und Mittel bedacht, also im Dienste des Willens stets auf seinem Posten und demnach naturgemäß beschäftigt ist; so vernachlässigt dagegen der emanzipierte, entfesselte, das Wollen aus dem Bewusstsein verdrängende, auf die Auffassung des objektiven Wesens der Dinge gerichtete Intellekt des Genies den Dienst des Willens, und daraus entspringen dann jene Exzentrizitäten, persönlichen Fehltritte, ja Torheiten, die das Genie charakterisieren. Die oft bemerkte Verwandtschaft des Genies mit dem Wahnsinn beruht eben auf jener dem Genie Wesentlichen, dennoch aber naturwidrigen Sonderung des Intellekts vom Willen.
Der Intellekt des Genies wird überhaupt die Fehler zeigen, die bei jedem Werkzeug, welches zu Dem, wozu es nicht gemacht ist, gebraucht wird, nicht auszubleiben pflegen. Zunächst wird er gleichsam der Diener zweier Herren sein, indem er bei jeder Gelegenheit sich von dem seiner Bestimmung entsprechenden Dienste losmacht, um seinen eigenen Zwecken nachzugehen, wodurch er den Willen oft sehr zur Unzeit im Stich lässt, und hiernach das so begabte Individuum für das Leben mehr oder weniger unbrauchbar wird, ja, in seinem Betragen bisweilen an den Wahnsinn erinnert. Sodann wird es, vermöge seiner gesteigerten Erkenntniskraft, in den Dingen mehr das Allgemeine, als das Einzelne sehen, während der Dienst des Willens hauptsächlich die Erkenntnis des Einzelnen erfordert. Aber wenn nun wieder gelegentlich jene ganze, abnorm erhöhte Erkenntniskraft sich plötzlich mit aller Energie und Konzentration auf die Angelegenheiten und Miseren des Willens richtet; so wird sie diese leicht zu lebhaft auffassen, Alles in zu grellen Farben, in zu hellem Lichte, und ins Ungeheure vergrößert erblicken, wodurch das Individuum auf lauter Extreme verfällt. Hieraus erklärt sich, dass geniale Individuen bisweilen über Kleinigkeiten in heftige Affekte geraten. Kurz, es fehlt dem Genie die Nüchternheit, als welche gerade darin besteht, dass man in den Dingen nichts weiter sieht, als was ihnen, besonders in Hinsicht auf unsere möglichen Zwecke, wirklich zukommt. Zu den angegebenen Nachteilen gesellt sich nun noch die übergroße Sensibilität, welche ein abnorm erhöhtes Nerven- und Zerebral-Leben mit sich bringt, und zwar im Verein mit der das Genie ebenfalls bedingenden Heftigkeit und Leidenschaftlichkeit des Wollens, die sich physisch als Energie des Herzschlags darstellt. Aus allem diesem entspringt jene Überspanntheit der Stimmung, jene Heftigkeit der Affekte, jener schnelle Wechsel der Laune, unter vorherrschender Melancholie, die Göthe im Tasso uns vor Augen gebracht hat. (W. I, 224—228; II, 440—444. P. II, 75.) Die dem Genie beigegebene Melancholie beruht im Ganzen und Allgemeinen darauf, dass der Wille zum Leben, von je hellerem Intellekt er sich beleuchtet findet, desto deutlicher das Elend seines Zustandes wahrnimmt. (W. II, 437.)
Das Genie lebt wesentlich einsam. Es ist zu selten, um leicht auf seines Gleichen zu treffen, und zu verschieden von den Übrigen, um ihr Geselle zu sein. Sie werden an ihm und seiner drückenden Überlegenheit so wenig Freude haben, wie er an ihnen. Sie werden daher sich behaglicher mit ihres Gleichen fühlen, und er wird die Unterhaltung mit seines Gleichen, obwohl sie in der Regel nur durch ihre nachgelassenen Werke möglich ist, vorziehen. (W. II, 445. N. 32.) Der Mensch von Genie ist verdammt, in einer öden Welt zu leben, wo er nicht auf seines Gleichen trifft, wie auf einer Insel, die keine andern Bewohner hat, als Affen und Papageien. (H. 359.)
Zu den bereits genannten, den Lebenslauf des Genies keineswegs zu einem glücklichen machenden Eigenschaften und Zuständen kommt noch ein Missverhältnis nach Außen, indem das Genie in seinem Treiben und Leisten meistens mit seiner Zeit im Widerspruch und Kampfe steht, weil es der Entwicklungsstufe seiner Zeit weit voraus und von dieser erst einzuholen ist. Die Werke des Genies finden dem gemäß in der Regel nicht bei der Mitwelt, sondern erst bei der Nachwelt Anerkennung. (W. II, 445—447. W. II, 439.)